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Darf ein Erdbeben politisiert werden?

Ihsan Caralan

Das Erdbeben der Stärke 7,2 in der Provinz Van, das großen Sachschaden verursachte und vielen Menschen das Leben kostete, hat erneut eines gezeigt: Weder die Medien, noch die Regierung und andere staatliche Stellen haben aus früheren Beben die richtigen Lehren gezogen!
Im Jahre 1999 wurden nach dem großen Beben in der Marmara-Region viele Maßnahmen, z.B. die Einführung der “Erdbebensteuer” getroffen. Es wurde immer wieder beteuert, die Regierung und die Kommunen hätten daraus die richtigen Lehren gezogen und seien auf neue Katastrophen gut vorbereitet.
Wenn man aber die Berichterstattung in den Medien in den ersten Tagen nach dem Beben verfolgt, gewinnt man einen anderen Eindruck. Wir sehen, dass die Sendungen mit den eingeladenen Experten nicht viel mehr bewirken, als unsere bereits vorhandenen Kenntnisse über die Hintergründe von Beben und deren mögliche Folgen aufzufrischen. Es wird kein Wort darüber verloren, für welche konkreten Maßnahmen die bis jetzt eingezogenen Steuermittel (es ist die Rede von ca. 27 Mrd. Türkische Lira) verwendet wurden, wieviel davon z.B. die Provinz Van erhielt, die ja bekanntlich ein Erdbebengebiet ist. Selbst einige Tage nach dem Beben konnten keine Angaben über die konkrete Situation in den Dörfern oder über mögliche Opferzahlen gemacht werden. Es ist die Rede davon, dass selbst in den Kleinstädten in der Provinz die erforderliche Infrasturktur und die richtige Organisation fehlte, um den Betroffenen zu helfen.
Auch die Hilfe, die die Provinzhauptstadt erreichte, war unzureichend. Menschen mußten Tage lang auf Zelte, Nahrungsmittel und Wasser warten. Der Ministerpräsident mußte vor laufenden Kameras zugeben, dass seine Regierung über das Ausmaß der Schäden nur spekulieren kann und aus den Dörfern noch keine Informationen hat. Das hinderte ihn und seine Kabinettmitglieder nicht daran, mit einem großen Troß in das Katastrophengebiet zu reisen und eine Show abzuziehen.
Hier wirft sich die Frage auf, wem es nützt, dass der Ministerpräsident und seine Mitglieder in das Katastrophengebiet fliegen und nicht die ganze Kraft darauf verwendet wird, die Rettungsarbeiten zu organisieren. Dabei ist es doch bekannt, dass die ersten 24 Stunden die wichtigsten sind, um Überlebende noch zu bergen. Nach Augenzeugenberichten wurden nach Ankunft der Regierungsmitglieder die Bergungsarbeiten zeitweise gestoppt und erst am anderen Morgen wieder aufgenommen.
Die Überlebenden, die interviewt wurden, beklagten sich über unzureichende Hilfen, fehlende Zelte etc. Die lebenswichtigen ersten 24 Stunden waren von einem großen Chaos gekennzeichnet, in dem die Bergungs- und Rettungsarbeiten mehr schlecht als gut koordiniert wurden. Vielleicht wird in den nächsten Tagen einiges nachgeholt. Wir wissen aber, dass auf die Betroffenen eine andere Gefahr wartet. Es ist nämlich damit zu rechnen, dass die Hilfe für politische Zwecke intsrumentalisiert und als ein Druckmittel auf die Bevölkerung vor Ort eingesetzt wird.
So wurden z.B. die Vertreter der Stadt Diyarbakır daran gehindert, warmes Essen an die Erdbebenopfer in Van auszuteilen. Man begründete dies damit, dass der Rote Halbmond die Essensausgabe in der Zeltstadt organisiere, obwohl es zu der Zeit keine Zeltstadt und auch keine Essensausgabe gab. In diversen Webforen wurden Gerüchte verbreitet, dass die Hilfsgüter und Geldspenden, die in die kurdische Provinz Van gehen, an die PKK weitergegeben würden.
Das Erdbeben von Van wird wohl als das “politischste Erdbeben des Landes” in die Geschichte eingehen. Die laufenden Militäroperationen und die gespannte politische Lage in der Region werden auch dazu beitragen. Es muss damit gerechnet werden, dass jegliche Spenden- und Hilfskampagne einem politischen Druck ausgesetzt sein wird. Die Regierungspartei wird bemüht sein, ihre Möglichkeiten mit den Hilfslieferungen zu verbinden und die Katastrophe für eine politische Abrechnung zu instrumentalisieren.
Wir haben immer wieder darauf verwiesen, dass die Toten nicht Opfer des Erdbebens sind, sondern Opfer einer Baupolitik, die den Profit über alles stellt. Und davon profitiert in erster Linie der Staat.
Es bleibt zu hoffen, dass jetzt beim Wiederaufbau der Stadt eine Politik verfolgt wird, die den Menschen und nicht den Profit über alles stellt. Allerdings geben die bisherigen Erfahrungen keinen großen Anlass zu dieser Hoffnung. Es sei denn, die Bevölkerung sorgt dafür, dass die Regierung und mit ihr befreundete Baukonzerne kein Kapital aus der Katastrophe schlagen können.

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