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Die Wahrheit über das Massaker von Dersim

İhsan Caralan

Wenn wir im Alltagsleben von Wahrheit sprechen, glauben wir, dass eine Wahrheit stets als „wahr“ wahrgenommen wird. Und wir gehen davon aus, dass sie auch künftig als „wahr“ wahrgenommen wird. D.h. die Wahrheit von heute wäre ewig. Davon geht die menschliche Denkweise aus.
Natürlich ist diese Denkweise „metaphysisch“. Denn etwas Wahres, was wir in der Natur oder im Menschenleben antreffen, kann sich künftig als nicht-wahr herausstellen. Dies ist die dialektische Herangehensweise.
Wenn wir einen Schritt weitergehen, kann sich heute etwas „Richtiges“ morgen als falsch und heute etwas „Falsches“ morgen als doch richtig herausstellen. Das Gleiche gilt auch für die Dersim-Debatte und die dabei erhobenen Forderungen nach „Aufdeckung der Verantwortlichen des Massakers“, „Freigabe der Dokumente im Staatsarchiv“, „Bitte um Entschuldigung bei den Hinterbliebenen“ etc.
Ja, im Jahre 1938 wurden in Dersim Zehntausende Frauen, Männer und Kinder unter dem Vorwand der Bekämpfung eines Aufstands massakriert. Der Staat hielt die Dokumente darüber in der Tat geheim. Die Massengräber wie auch die Grabstätte des „Führers der Aufständischen“, Seyit Riza, wurden bis heute geheim gehalten. Und die Bewohner von Dersim, sowie ihre Organisationen, die eine Aufdeckung der historischen Ereignisse fordern, sind selbstverständlich und uneingeschränkt im Recht.
Und wir müssen auch hinzufügen, dass diese Debatte nicht neu ist. Seit Jahrzehnten versuchten Intellektuelle und demokratische Kräfte immer wieder, eine Debatte über das Massaker von Dersim anzustoßen, warfen diesbezügliche Fragen auf und forderten Antworten darauf. Und diesen Versuchen wurde stets mit staatlicher Verfolgung begegnet. Den Anstoß für die jetzige aktuelle Diskussion gab der CHP-Abgeordnete Hüseyin Aygün in der regierungsnahen Zeitung „Zaman“ und entfachte eine neuerliche Diskussion. Regierungstreue Kolumnisten, die mit einem Auge auf den erhobenen moralischen Zeigefinger des Ministerpräsidenten Erdogan schielen, der sich als Rächer der Massakrierten zu etablieren versucht, starteten eine Kampagne.
In der Tat sind die zur Debatte stehenden Ereignisse wahr und die erhobenen Forderungen berechtigt. Ist denn auch der gewählte Zeitpunkt der Debatte der „richtige“? Unsere heutige Zeit kennzeichnen folgende Merkmale:
Die AKP begann bereits im Wahlkampf in diesem Frühjahr damit, auf die Ereignisse zur Zeit des Einparteiensystems, also die Zeit von der Gründung der Republik bis in die 1950`er Jahre, als die CHP die einzige Partei im politischen System der Türkei die Geschicke des Landes lenkte, hinzuweisen. Die heutige Regierungspartei versuchte bereits im Wahlkampf, die Verantwortung der damaligen Staatspartei bei der Unterdrückung der Kurden ins Gespräch zu bringen. Diese Versuche sollten allerdings dazu dienen, unter Beweis zu stellen, dass die damalige Assimilationspolitik heute nicht mehr betrieben würde, dass die Kurden heute dank der AKP-Regierung grenzenlose Freiheit genießen und alle Rechte in Anspruch nehmen würden.
Diese Kampagne startete die Regierungspartei AKP just zu einer Zeit, in der kurdische Politiker, Bürgermeister, Gewerkschafter zu Tausenden inhaftiert werden, denen man vorwirft, Funktionäre oder Mitglieder der KCK zu sein. Diese Repressionswelle gegen BDP-Mitglieder wird begleitet von Erklärungen aus den Reihen der obersten Staatsrepräsentanten, in denen Rache für getötete Soldaten gefordert wird. Und die AKP beansprucht für sich dabei, die Partei zu sein, die den Kurden Freiheiten gebracht hätte.
Für die AKP stellt es keinen Beinbruch dar, die Verantwortung des Staates für das Massaker von Dersim einzugestehen und die Dokumente im Staatsarchiv offenzulegen. Das alles würde der AKP keine Zugeständnisse abverlangen. Sie schlägt jedoch einen anderen Weg ein. Sie versucht die Debatte in andere Bahnen zu lenken und missbraucht sie dafür, von ihrer heutigen Politik der Unterdrückung abzulenken. Allem Anschein nach wird sie diesen Weg weitergehen. Sie wird die Debatte bis zum Letzten für sich auszuschlachten. Womöglich wird sie die Grabstätte von Seyit Riza im nächsten Wahlkampf der Öffentlichkeit mitteilen oder das Staatsarchiv öffnen und damit versuchen, für sich daraus politisches Kapital zu schlagen.
So beabsichtigt die AKP, den kurdischen Freiheitskampf zu torpedieren und ihre eigenen Repressionen gegen die Kurden zu legitimieren. Mit der Debatte versucht sie auch, die internen Debatten in der CHP zu verstärken und eine Spaltung in deren Reihen zu erreichen.
Das sind die Pläne der AKP. Wenn man deren Absichten hinterfragt und dabei einen dieser Aspekte weglässt, kommt man zu einem unvollständigen Ergebnis. Auf den ersten Blick erscheint der Versuch, Zwietracht in den Reihen der kemalistischen Konkurrenzpartei zu säen, als das einzige Ziel. Dabei darf man nicht den Fehler machen, dass es Erdogan und seiner Partei auch darum geht, den kurdischen Kampf um Demokratie von den restlichen Kämpfen in der gesamten Türkei abzuspalten.
Ja, die Forderungen wie Offenlegung der Dokumente, Aufdeckung der Verantwortlichen des Massakers sind uneingeschränkt berechtigt. Wenn wir uns aber in den Grenzen der uns aufgezwungenen Debatte bewegen, leisten wir unseren Beitrag dazu, dass die Debatte in erster Linie dazu dient, von den Repressionen gegen Kurden (wie z.B. die Verhaftungswellen im Rahmen der so genannten KCK-Operationen) abzulenken. Wir müssen auch sehen, dass der Zeitpunkt der aktuellen Debatte nicht richtig ist. Dieser absichtlich gewählte falsche Zeitpunkt ist ein Zeichen dafür, dass daraus eine der AKP dienende Kampagne gestrickt werden soll.

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