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„Klassismus“ – Mein Leben als Studierende und Arbeiterkind

Alev Bahadir

Als Mitte Dezember die Entscheidung im Landtag gefallen ist, dass die Studiengebühren nun endlich auch in Baden-Württemberg zum nächsten Sommersemester abgeschafft werden sollen, habe ich mir, in meiner Rolle als Studierende und gleichzeitig als Arbeiterkind, ernsthafte Gedanken darüber gemacht, ob alle nun wirklich die gleichen Chancen an der Uni haben. Es ist doch naheliegend, dass die hohen Studiengebühren viele, vor allem aus Arbeiterfamilien stammende Jugendliche, abgeschreckt haben, zu studieren. Aber wird es sich nun mit der Abschaffung der Gebühren ändern? Wie „sozial-gerecht“ ist denn dieses System wirklich?

Geh zur Uni, Kind!
Wer kennt diesen Satz nicht? Gerade in vielen migrantischen Familien hört man ihn immer wieder. Seien es die Eltern, Großeltern, Tanten, Onkel oder sonst jemand, mit dem man auch nur ein bisschen was zu tun hat. Von Kindesbeinen an hört man „Du bist klug, du wirst zur Uni gehen! Endlich als Erste in der Familie!“ Ich fand diesen Satz nie schlimm. Er gehörte einfach dazu. Schlimm war es eher, wenn er zum Beispiel von einer Tante kombiniert wurde mit einem Wangenkneifer. Hierbei wurde eine Wange zwischen Daumen und Zeigefinger eingeklemmt und fast um 360 Grad gedreht, so dass die Schmerzen manchmal stundenlang anhalten konnten. Vor allem der zweite Teil des obigen Zitates war prägend für mich und mein Leben: „als Erste in der Familie“, denn ich stamme nicht nur von einer Migrantenfamilie ab, sondern komme auch aus einer Arbeiterfamilie! Vor mir war noch niemand in meiner Familie an der Uni. Das heißt: die ganzen Erwartungen meiner Sippe lagen auf mir! Wenn das mal nicht ein tolles Gefühl ist…
Bald merkte ich, dass ich ganz gut in der Schule war und strengte mich sehr an, um es zu schaffen und zur Uni zu gehen. Also lernte und lernte und lernte ich, um mir und meiner Familie diesen Wunsch zu erfüllen. Und tatsächlich, 2009 machte ich mein Abitur und begann gleich darauf im Wintersemester Ethnologie und Semitistik in Heidelberg zu studieren.

Gebühren, Gebühren, Gebühren!
Worauf ich zu Studienbeginn nicht vorbereitet war, waren die unzähligen Kosten, die auf mich zukamen. Mittlerweile studiere ich seit zwei Jahren und am Anfang des Semesters ist es immer wieder der gleiche Spaß. Das Semester beginnt und ich bin gleich pleite. Zwar musste ich dank der Geschwister-Regelung (falls eine Familie drei oder mehr Kinder hat, wird eines davon von den Studiengebühren befreit), noch nie Studiengebühren bezahlen, dennoch ist das Studium mit unzähligen Kosten verbunden, was die Meisten vor Studienbeginn gar nicht wissen. Jedes Semester fallen Studentenwerks- und Verwaltungskosten von ca. 130 € an. Das Semesterticket, das ich dringend benötige, weil ich jeden Tag 25 km zur Uni fahren muss, kostet mittlerweile 138 €, Tendenz exponentiell steigend. Hinzu kommen unzählige Bücher und Reader, die ich erwerben muss. Das sind bestimmt auch noch einmal 100 €. Im Semester fallen außerdem mindestens 50 €  Kopierkosten und 50 € Materialkosten an. Man muss kein Matheprofessor sein, um auszurechnen, dass ich im Semester nur für die Uni ca. 500 € ausgebe. Es hört sich vielleicht wenig an, aber für einen Arbeiter ist das sehr viel Geld. Außerdem braucht der Mensch auch Kleidung, will mal mit Kommilitonen etwas trinken gehen oder in der Mensa essen. Meine Eltern unterstützen mich zwar, schließlich wohne ich noch bei ihnen, aber mit einem gewissen Alter möchte man auch nicht mehr finanziell von seinen Eltern abhängig sein. Wenn aber noch Mietkosten und Nahrungsmittel hinzukämen, könnte ich wieder aufhören, zu studieren. Meine Eltern können beim besten Willen nicht und ich will nicht, dass sie alle meine Kosten übernehmen, denn meine Eltern sind beide Arbeiter und haben zwei weitere Kinder, um die sie sich kümmern müssen. Ergo: ich blieb auf den Kosten sitzen.

Große Hoffnung/ große Enttäuschung: BAföG
Wie aber soll man das alles bezahlen, wenn man kein Einkommen hat? Ich wählte die offensichtlichste der Lösungen: BAFöG. Ausgeschrieben bedeutet BAföG übrigens Bundesausbildungsförderungsgesetz und soll Studierenden aus einkommensschwächeren Familien helfen, ein Studium wahrzunehmen. „Prima, für Leute, wie mich“, dachte ich mir und ging zum BAFöG-Amt, um mir meinen Antrag abzuholen. Wer so einen Antrag schon einmal in der Hand hatte, weiß genau: Er ist ein Bürokratie-Alptraum. Unzählige Blätter mit Angaben und Fragen, die Otto-Normal-Bürger nicht verstehen kann. Irgendwie habe ich es dann aber doch geschafft, ihn auszufüllen und abzugeben. Es verging ein Monat, keine Antwort. Es verging ein zweiter Monat, keine Antwort. Es verging ein dritter Monat, keine Antwort. Langsam wurde ich unruhig, schließlich hatte ich einen Haufen Ausgaben und kein Geld. Private Aktivitäten waren sowieso in der untersten Schublade verpackt, bereit, jederzeit herausgeholt zu werden. Dann schließlich, eine Antwort, aber eine verdammt miese… Statt dem erwarteten Höchstbetrag, bekam ich gerade mal die Hälfte des Geldes: 200 €. Die brachten mir auch nicht viel, ich hatte keine andere Wahl und musste mir einen Job suchen.
Mittlerweile bin ich im 5. Hochschulsemester und meine Woche sieht ungefähr so aus: Montag, den ganzen Tag Uni, Dienstag: den ganzen Tag Uni, Mittwoch: den ganzen Tag Uni, Donnerstag: den ganzen Tag Uni, Freitag: arbeiten gehen, Samstag: arbeiten gehen, Sonntag: den ganzen Tag lernen. Irgendwo dazwischen packe ich dann noch meine ehrenamtlichen Tätigkeiten und Freunde rein. Resultat: Woche voll, Stresspegel hoch!

Chancengleichheit? Noch lange nicht!
Ihr seht, obwohl ich keine Studiengebühren zahlen musste, ergeht es mir nicht gerade toll. Einen Tag die Woche habe ich Zeit, zu lernen, sonst bin ich entweder in der Uni oder arbeite. Ein Problem, dass ich mit so ziemlich jedem Arbeiterkind Deutschlands teile. Wären meine Eltern jedoch vermögende Akademiker, müsste ich mir um Geld keine Sorgen machen, sondern könnte mich voll und ganz auf mein Studium konzentrieren, ein Paar Auslandssemester einschieben und mein Studium beliebig verlängern. Aber das ist nicht der Fall. Das einzige Beruhigende ist, dass ich es überhaupt an die Uni geschafft habe und nicht wie viele andere Arbeiterkinder bereits am Abitur gescheitert bin.
Laut einer Studie des AStA Münster stellen Jugendliche aus Arbeiterfamilien nur 10 % der Studierenden an Hochschulen dar. Diejenigen, die es dann doch an die Uni schaffen, sehen sich einem ständigen Klassismus ausgesetzt, d.h. sie werden aufgrund ihrer ökonomischen Verhältnisse von der aus besseren Familien stammenden Mehrheit abgelehnt. Es ist auch nicht nur das Geld, das eine wichtige Rolle spielt. Die meisten Arbeiterkinder betreten mit der Uni eine völlig neue, abgehobene, von Tommy Hilfiger regierte Welt, voller Möchtegern-Intellektueller und reichen Snobs. Hilfe bei Problemen mit  Aufgaben oder Professoren können sie sich von ihren Eltern nicht holen, denn diese haben jene Erfahrungen schließlich nie gemacht.
Man sieht also, dadurch dass die Studiengebühren abgeschafft werden, gibt es nicht automatisch gleiche Chancen für alle. Denn solange mein Studium, die Bücher, mein Ticket, nicht völlig umsonst sind und viele Professoren nicht bereit sind, ihr elitäres Gedankengut abzulegen, habe ich nicht die gleichen Chancen, wie mein Kommilitone, der aus einem finanziell sichereren Haushalt stammt. Denn bei „Gerechtigkeit“ würde das „Können und Wollen“ entscheiden und nicht, „sich das leisten können“.

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