Am 3. Oktober 1990 wurde aus einem geteilten Deutschland ein gemeinsames Deutschland. Bürger der ehemaligen DDR (Deutsche Demokratische Republik) wurden zu Bürgern der Bundesrepublik Deutschland und eine vermeintlich Kluft war aufgehoben. Zumindest auf dem Papier.
Alev Bahadir
Während regelmäßig am Tag der Deutschen Einheit die Wiedervereinigung gefeiert wird und ein Loblied auf “den Sieg über den Sozialismus“ bei offiziellen Empfängen gesungen wird, sind Menschen in Ostdeutschland bis heute systematisch benachteiligt. Bereits vor dem 3. Oktober 1990 begann dieser Prozess. Nach dem Fall der Berliner Mauer sollte die im März 1990 gegründete Treuhandanstalt das staatliche Vermögen der DDR, also Industrie, Landwirtschaft, Handel etc., „treuhänderisch“ verwalten und allen voran nach Grundsätzen des Kapitalismus privatisieren. Das bedeutete in erster Linie, dass 8.500 Betriebe mit ca. 4,1 Millionen Beschäftigten teilweise zerschlagen und an westdeutsche Konzerne und Investoren zu Spottpreisen verscherbelt wurden. Werke wurden geschlossen, drei Millionen Menschen wurden arbeitslos. Die „blühenden Landschaften“, die der damalige CDU-Kanzler Helmut Kohl mit der Einführung der D-Mark im Osten versprach, blieben -zumindest für Arbeiter und Angestellte- aus. Vielmehr erwarteten die Menschen Massenarbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit und eine Radikalisierung der Jugend nach rechts.
Bis heute zieht sich diese Ungleichheit fort. Laut einer Jahresbilanz des Statistischen Bundesamts für 2024 liegt der Durchschnitts-Bruttolohn für Vollzeitbeschäftigte im Osten 13.000 Euro oder 21 Prozent unter dem derjenigen im Westen. Während die Arbeitslosenquote 2024 in den alten Bundesländern bei 5,7 Prozent lag, war selbige in Ostdeutschland bei 7,5 Prozent. Bis heute ist auch die Armutsgefährdungsquote im Osten noch höher, als im Westen – obwohl sie sich immer weiter annähern.
Die verbrannte Erde hat selbstverständlich auch politische Folgen. Wo die wirtschaftliche Not, die politische Perspektivlosigkeit und das Gefühl von Abgehängtheit groß ist, dort wachsen, wenn es keine fortschrittlichen Kräfte gibt, faulende rechte Bäume mit vergifteten Früchten. Im Osten entwickelte sich der NSU, der ein Jahrzehnt lang rechten Terror gegen Migranten verbreitete. Dort gründete sich der „Thüringer Heimatschutz“ und viele weitere rassistische Nazigruppen, die vom Verfassungsschutz personell und finanziell unterstützt wurden. PEGIDA, das sich gegen eine angebliche „Islamisierung“ Deutschlands stellte, hatte einen Zulauf von Zehntausenden in den „neuen“ Bundesländern und schlussendlich etablierte sich die AfD allen voran im Osten. Alles Gründe für viele Menschen im Westen, auf die Menschen in Ostdeutschland herabzusehen und den erstarkenden Rechtsruck als ostdeutsches „Phänomen“ abzutun. Dabei ist es in erster Linie ein soziales Problem.
Sind wir so gespalten, wie noch nie?
Wenn wir die Gesamtsituation in Deutschland betrachten, stellen wir fest, dass die Probleme keine hausgemachten im Osten sind. Denn auch wenn Deutschland vielleicht laut Gesetzbuch als vereinigt gilt, ist die Bevölkerung in Deutschland tiefgespalten. Der Rechtsruck war und ist kein Ostproblem, sondern wächst mit der sozialen Misere in ganz Deutschland weiter. Es ist kein Zufall, dass bei den Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen die AfD in drei Städten in die Stichwahl für den Oberbürgermeisterposten gegangen ist. Gelsenkirchen, Duisburg und Hagen gehören zu den ärmsten Städten Deutschlands. Und der Trend zieht sich fort. In Umfragen rangiert die AfD schon länger direkt bei der Union, in einigen knapp unter ihr – in anderen sogar über ihr und somit als stärkste Partei.
Gerade die CDU / CSU und die anderen Regierungsparteien der letzten Jahre, also SPD, Grüne und FDP haben erheblich zur Spaltung der Gesellschaft beigetragen, indem sie rassistische Narrative fortführten, Geflüchtete und Bürgergeldempfänger zu Sündenböcken machten und eine Politik zu Gunsten der wenigen Reichen, statt der vielen Arbeitenden machten. Dazu muss man wirklich nicht drei Jahrzehnte zurückblicken. Während es in jeder Talkshow um die „Kosten von Bürgergeld“ geht, spricht keiner von der Erhöhung des Militäretats. Der Haushaltsbeschluss 2025 und der Entwurf für 2026 sprechen Bände. Während es in kaum einem Haushaltsposten signifikante Erhöhungen gibt, wächst der Militärhaushalt schon seit Jahren zum zweitgrößten Posten an. Dieses Jahr gab es bereits 10 Milliarden Euro mehr, also werden 62,4 Milliarden für die Bundeswehr bereitgestellt – schon heute Rekordwerte. Nächstes Jahr soll das übertroffen werden. Mit 82,6 Milliarden Euro macht das Militärbudget dann fast 16 Prozent des Gesamthaushalts aus. In Zeiten, in denen alle auf Menschen herumtrampeln, die 563 Euro im Monat zur Verfügung haben, während Lebensmittelpreise weiterhin steigen, in denen Massenentlassungen und Kurzarbeit und Schließungen von sozialen Einrichtungen an der Tagesordnung sind, eigentlich ein No-Go.
Nur echte Einheit kann der Spaltung etwas entgegensetzen
Während in Frankreich Millionen mit Generalstreik gegen soziale Kürzungen protestieren, italienische und griechische Hafenarbeiter aus Solidarität mit dem palästinensischen Volk Rüstungsexporte blockieren und Jugendliche weltweit gegen Korruption und ihre Regierungen aufbegehren, sieht man hierzulande wenig davon. Natürlich geben die jüngsten Palästina-solidarischen Demonstration in Berlin mit 20.000 oder sogar 100.000 Menschen Grund zur Hoffnung, aber von einer echten Einheit, die die sozialen Probleme in Zusammenhang mit Rassismus und Militarismus setzt, ist Deutschland noch weit weg.
Ja, 35 Jahre Deutsche Einheit bedeutet ein „gemeinsames“ Deutschland, aber keinesfalls ein Deutschland für alle. Echte Einheit zeigt sich nur in fortschrittlichen Kämpfen für die eigenen Interessen als arbeitende Klasse. Wenn für die 35-Stunden-Woche gestreikt wurde, wenn gegen den Afghanistankrieg oder das Freihandelsabkommen TTIP demonstriert wurde. Nicht durch Hetze und Spaltung durch Rechts, ob nun in Ost oder West.
Die NRW-Kommunalwahlen zeigen, dass der Rechtsruck kein Randphänomen ist, sondern aus der sozialen Realität mitten in der Gesellschaft wächst. Wer ihn stoppen will, darf nicht auf die etablierten Parteien setzen, sondern muss Druck von unten organisieren – für Arbeitsplätze, öffentliche Investitionen, Bildung, Gesundheit und eine antirassistische Gesellschaft. Die Alternative zur AfD kann nur eine konsequente linke Politik sein, die soziale Gerechtigkeit nicht nur verspricht, sondern erkämpft.