OKTAY DEMİREL
Am 14. Oktober 2025 sagte Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) bei einem Besuch in Brandenburg: „Bei der Migration sind wir sehr weit. Wir haben die Zahlen im Vergleich August 24 zu August 25 um 60 % nach unten gebracht, aber wir haben natürlich immer im Stadtbild noch dieses Problem.“ Später verteidigte er seine Aussage weiter: „Ich habe gar nichts zurückzunehmen. Fragen Sie Ihre Töchter, was ich damit gemeint haben könnte.“
Merz sprach nicht als Einzelperson, sondern als Vertreter einer politischen und ökonomischen Klasse, die rassistische Diskurse systematisch nutzt, um soziale Spaltung zu sichern. Rassismus ist hier kein moralischer Fehltritt, sondern ein Herrschaftsinstrument – ein Mittel, um gesellschaftliche Ungleichheit zu stabilisieren.
Das Stadtbild als politischer Code
Das „Stadtbild“ steht für die deutsche Wohlstandsgesellschaft: sauber, sicher, weiß. Merz’ „Stadtbild-Problem“ besteht nicht in überfüllten Bussen oder maroden Schulen, sondern in der Sichtbarkeit gesellschaftlicher Realität – Armut, Drogen, Migration, Ungleichheit.
Diese Rhetorik verschiebt soziale Konflikte ins Kulturelle. Nicht Anhäufung von Reichtum oder Klassenpolitik stehen im Fokus, sondern Äußerlichkeiten. Wer arm, migrantisch oder prekarisiert ist, stört nicht, weil er arm ist, sondern weil er „nicht ins Stadtbild passt“. So wird ökonomische Ungleichheit kulturell untermauert. Die Wut über sinkende Lebensstandards richtet sich nicht gegen die Besitzenden, sondern gegen jene, die am unteren Ende der Lohnleiter stehen.
Auch erinnert das Zitat stark an eine Aussage aus dem Jahre 2016 des damaligen AfD-Vorsitzenden Alexander Gauland, der gesagt hatte: „Neben Boateng würde ich nicht wohnen wollen. Die Leute finden ihn als Fußballspieler gut. Aber sie wollen einen Boateng nicht als Nachbarn haben.“ Der Satz löste damals eine breite Empörungswelle aus, weil er exemplarisch für den rassistischen Subtext der AfD stand und sein Inhalt hat es heute anscheinend ins Kanzleramt geschafft.
Von Sarrazin zu Merz – der Nützlichkeitsrassismus
Gauland’s oder Merz’ Rhetorik knüpft direkt an Thilo Sarrazins Deutschland schafft sich ab (2010) an. Beide verkörpern denselben Nützlichkeitsrassismus: Menschen werden nach ökonomischer Verwertbarkeit bewertet. Der „fleißige Flüchtling“ gilt als integrationswillig, der „nutzlose Migrant“ als Gefahr.
So wird die soziale Frage kulturell aufgeladen: Nicht die kapitalistische Produktionsweise, die Armut erzeugt, steht zur Debatte, sondern die „falschen Menschen“. Diese Logik hält die Arbeiterklasse gespalten – Deutsche gegen Migranten, „Leistungsträger“ gegen „Sozialschmarotzer“.
Migration als Fundament der Arbeitsgesellschaft
Ein Blick in die Statistik zeigt, wie zentral migrantische Arbeitskraft für den deutschen Kapitalismus ist. Laut Statistischem Bundesamt hatten 2024 rund 26 % aller Beschäftigten eine Einwanderungsgeschichte. In den sogenannten Engpassberufen, also jenen mit akutem Fachkräftemangel, liegt der Anteil jedoch weit höher: 60 % in der Schweiß- und Verbindungstechnik, 54 % in der Lebensmittelherstellung, 48 % im Gerüstbau, 47 % bei Fahrerinnen und Fahrern im ÖPNV, 46 % in der Fleischverarbeitung, 45 % im Gastronomieservice, Kunststoff- und Kautschukverarbeitung (44 %), Metallbearbeitung (37 %), Güterverkehr (39 %) und Elektrotechnik (30 %) sind ähnliche Anteile zu verzeichnen. Auch in sozialen Berufen sind Migrantinnen und Migranten tragend: In der Altenpflege hat ein Drittel (33 %) eine Einwanderungsgeschichte.
Die deutsche Wirtschaft – besonders ihre unteren Segmente – ruht auf migrantischer Arbeit. Diese Menschen sichern also den Alltag – Reinigung, Pflege, Transport, Produktion, Gastronomie, Bau. Doch gerade dort sind Löhne niedrig, Arbeitsbedingungen prekär und gesellschaftliche Anerkennung gering.
Umgekehrt sind Migranten in Sektoren mit institutioneller Macht oder symbolischem Kapital deutlich unterrepräsentiert. Der deutsche Arbeitsmarkt reproduziert so eine klare Hierarchie: Migranten sind ökonomisch unverzichtbar, aber sozial benachteiligt. Der Diskurs über das „Problem im Stadtbild“ kehrt diese Realität um – die, die die Städte am Laufen halten, sollen als Störfaktor erscheinen. Es ist leichter, diese Ungleichheit zu verteidigen, wenn man sie kulturell oder gar biologisch begründen kann.
Sicherheit als ideologischer Code
Mit „Fragen Sie Ihre Töchter“ verschob Merz den Diskurs in den Bereich geschlechtlichliche Angst. Migration wird hier mit sexueller Bedrohung verknüpft – ein altbekanntes Muster rechter Rhetorik, das patriarchale und rassistische Elemente vereint.
Der „fremde Mann“ bedroht die „deutsche Frau“. Diese Rhetorik lenkt von realen Unsicherheiten ab: steigende Mieten, Armut, Überforderung öffentlicher Infrastruktur. Sicherheit wird ethnisiert.
Die CDU bedient sich dieses Vokabulars bewusst und verschiebt die Grenze des Sagbaren weiter nach rechts. Der Innenminister führt währenddessen „in sehr großem Umfang Rückführungen“ durch – die praktische Umsetzung des Nützlichkeitsrassismus: Wer ökonomisch nicht verwertbar ist, wird abgeschoben. Einige Tausend abzuschiebende „Kriminelle“ verderben eben den ganzen Korb. So entsteht ein Klima, in dem Solidarität als dumm und Konkurrenz als natürlich gilt. Die Lohnabhängigen sollen sich nicht als gemeinsame Klasse begreifen, sondern als Konkurrenz.
Die Normalisierung des rechten Diskurses
Merz’ Worte markieren keinen Ausrutscher, sondern eine Anpassung an den weltweit autoritären Zeitgeist. Die CDU übernimmt Begriffe und Weltbilder der Trumps, Orbans, Melonis und der AfD, um selbst „realpolitisch“ zu wirken. Merkels Ära der liberalen Migrationspolitik ist endgültig vorbei. Anstatt über soziale Fragen – Löhne, Reichtum, Wohnen, Klima – zu sprechen, verengt sich die Debatte auf kulturelle Identität.
Solidarität statt Verwertbarkeit
Antirassismus ist keine moralische Haltung, sondern Klassenpolitik. Er bedeutet, die Spaltung der Lohnabhängigen aufzuheben und gleiche Rechte, gleiche Löhne und ein Zusammenleben zu fordern.
Dazu gehören die Abschaffung der Koppelung von Aufenthaltsrecht an Arbeitsplätze, gleiche soziale Rechte für alle, die hier leben und arbeiten, eine öffentliche Kontrolle und Investitionen in Wohnen, Energie, Verkehr, Bildung und Gesundheit.
Die Empörung über Merz’ Worte bleibt oberflächlich, solange sie nicht die Systemlogik benennt, die sie hervorbringt. Sein Satz war keine Entgleisung, sondern Ausdruck einer Ideologie, die Zugehörigkeit über Nützlichkeit definiert.
Merz sprach nur offen aus, was die deutsche Wirtschaft heute benötigt: Menschen, die den kapitalistischen Normalzustand sichtbar stören, sollen unsichtbar gemacht werden.
Der Kampf dagegen kann nicht moralische Empörung sein, sondern entschlossener Kampf gegen Armut und Ausgrenzung, für eine Gesellschaft, in der Arbeit, Würde und Sichtbarkeit keine Frage der Herkunft sind.

