Die Diskussion über die Gefahr eines neuen Autoritarismus gewinnt nun auch in Deutschland an Schärfe. Während die AfD in Umfragen und Wahlergebnissen stabile oder wachsende Zustimmung verzeichnet und in Umfragen phasenweise sogar stärkste Partei wird, beginnen Teile der deutschen Wirtschaft, sich der Partei vorsichtig zu öffnen. Das prominenteste Beispiel ist der Verband der Familienunternehmer, der seine bisherige Ablehnung gegenüber der AfD aufgab und eine „inhaltliche Auseinandersetzung“ anbot.
Oktay Demirel
Und das, „obwohl zentrale Punkte des AfD-Programms“ aus Sicht vieler Wirtschaftsakteure „aus pragmatischen Gründen nicht tragbar“ sind: ein Austritt Deutschlands aus dem Euro, protektionistische Tendenzen, EU-Skepsis, restriktive Migrations- und Zuwanderungspolitik trotz Fachkräftemangel — all das widerspricht dem, was deutsche Unternehmen als stabile Rahmenbedingungen sehen. Tut es das aber wirklich?
Autorität im neuen Gewand
Die radikale „alte Rechte“ war nach dem zweiten Weltkrieg stark in den Untergrund getreten und gesellschaftlich geächtet. Ihre gemäßigte rassistische Ideologie etablierte sich aber in der DNA von Union und FDP. Rassistische, faschistische oder völkische Subkulturen – die nach der „Wende“ vor allem im Osten aufblühten“ wurden mehrheitlich zwar mit einem Lächeln abgewunken, aber ein starkes Interesse an dem Erhalt der Ideologie als konservierte gesellschaftliche Option war auch damals schon vorhanden. Nicht selten wurde dem Verfassungsschutz nachgewiesen, dass rechte Tendenzen und Strukturen auf- und ausgebaut und finanziert wurden. Aber wegen der „deutschen Geschichte“ brauchte es länger als im restlichen Europa oder in der Welt, dass sich eine Partei etablierte, deren Grundideologie die autoritäre Umstrukturierung der Gesellschaft als Kern hat.
Um diese Verhältnisse der AfD zum jetzigen System zu verstehen, müssen wir die Geschichte des Faschismus mit der Vergangenheit und der Gegenwart vergleichen. Vor allem ökonomisch gesehen ist der Faschismus, wie wir ihn in der Geschichte in Hitlerdeutschland, in Frankos Spanien oder nach den CIA-kontrollierten Militärputschen der 1970`er oder 80`er Jahre in Griechenland, Nicaragua oder der Türkei erlebt haben, lediglich eine autoritäre Form des Kapitalismus. Die Eigentumsverhältnisse werden in diesen Autoritären Systemen nie aufgehoben, im Gegenteil sogar noch verstärkt und deutsche Konzerne und Unternehmen erlebten unter Hitler ihre Blütezeiten. In Griechenland oder der Türkei wurden revolutionäre Tendenzen mit Waffengewalt niedergeschlagen und der Kapitalismus konnte sich entfalten. Auch in dem Nachkriegsdeutschland wurden die Gewinne der Finanz- und Industriekonzerne, die unter Hitler aufblühten, nicht vergesellschaftlicht oder enteignet, sondern blieben weiterhin privat.
Faschismus – andere Form des Kapitalismus
Ist der Faschismus lediglich eine andere Form des Kapitalismus? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir vielleicht die Faschismustheorie des bulgarischen Kommunisten Georgi Dimitrov aus dem Jahre 1935 zu Rate ziehen. Er bezeichnete den Faschismus als „die offene terroristische Diktatur der am meisten reaktionären, chauvinistischen und imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“. Dieser Satz ist zu einem der am häufigsten zitierten der marxistischen Faschismustheorie geworden. Gemeint war nicht, dass jede autoritäre Tendenz automatisch faschistisch sei, sondern dass Faschismus eine potenzielle Herrschaftsform ist, die das Kapital in Krisensituationen mobilisiert. Dieses Verständnis setzt Faschismus in ein Verhältnis zum Klassenkampf: Er ist keine kulturelle oder einem Volk typische Verirrung oder kein irrationaler „Betriebsunfall“ der Geschichte, sondern eine bewusste politische Strategie zur Niederhaltung sozialer Bewegungen, zur Zerschlagung der Arbeiterbewegung und zur Reorganisation des Kapitalismus unter autoritären Vorzeichen. Wenn Demokratie die wirtschaftlichen Interessen der herrschenden Klassen nicht mehr effektiv stabilisiert, können autoritäre Lösungen attraktiv erscheinen. Das war in den 1930er Jahren so – und es ist keineswegs ausgeschlossen, dass solche Dynamiken seit Beginn des 21. Jahrhunderts wieder Fuss fassen.
Historische Erfahrungen: Kapital und Faschismus
Die deutsche Geschichte liefert ein prägnantes Beispiel für die Verbindung zwischen Kapitalinteressen und faschistischer Machtbildung. Große Teile der deutschen Industrie unterstützten vor 1933 aktiv die NSDAP oder sympathisierende Kräfte, sei es aus Furcht vor der „sozialistischen Revolution“, aus Angst vor Enteignung wie in Russland unter den Bolschewiki oder aus dem Wunsch nach politischer Stabilität. Die Hitler-Spende der deutschen Wirtschaft, bei der führende Unternehmen Millionenbeträge zum Aufbau der nationalsozialistischen Machtstruktur leisteten, zeigt, wie offen wirtschaftliche Eliten bereit waren, eine autoritäre Ordnung zu unterstützen, wenn sie ihnen Nutzen versprach.
Diese historischen Tatsachen zeigen, dass das Kapital nicht zwangsläufig „demokratisch“ ist und dass es – in Krisenzeiten und bei empfundener Bedrohung – zu autoritären Mechanismen tendieren kann. Bisher konnte man mit der „globalisierten kosmopolitischen Welt“ Profit machen, aber diese Weltoffenheit stößt nun an ihre Grenzen, da mehr Leute mit ihren gierigen Augen den zu teilenden Kuchen fixiert haben.
Die ökonomische Gegenwart: Unsicherheit als Nährboden
Auch wenn Deutschland derzeit keine Situation wie in der Endphase der Weimarer Republik erlebt, erkennen wir klare Parallelen zu strukturellen Vorgängen der damaligen Zeit: Die AfD erzielt insbesondere dort hohe Ergebnisse, wo wirtschaftliche Unsicherheit, Arbeitsplatzverluste, regionale Deindustrialisierung und Zukunftsängste wirksam sind. Studien weisen darauf hin, dass die AfD in „Transformationsregionen“ deutlich stärker wird, als in ökonomisch stabilen Bereichen. Arbeitslosigkeit, Prekarisierung, Angst vor sozialem Abstieg – all diese Faktoren bilden den sozialen Boden, auf dem rechte Parteien gedeihen. Diese Entwicklungen haben nicht nur kulturelle, sondern vor allem materielle Ursachen. Wo soziale Sicherheit bröckelt, entsteht Raum für autoritäre Versprechen, die Stabilität vortäuschen. Rechte Parteien wie die AfD bieten ein plattes Narrativ: Die Welt sei aus den Fugen geraten und die deutsche Nation müsse „geschützt“ werden – nicht vor Kapitalinteressen, Armut oder sozialer Ungleichheit, sondern vor Migration, kulturellem Wandel und „linksgrünversifften Gegnern“.
Die Verschiebung der politischen Konfliktlinie
Die AfD versucht, den Hauptwiderspruch der Gesellschaft in kulturelle, ethnische oder identitäre Konflikte umzudeuten. Dieser Mechanismus ist nicht neu: Schon historische faschistische Bewegungen verbanden soziale Fragen mit nationalistischen oder rassistischen Erzählungen. Die politische Energie, die eigentlich der sozialen Ungleichheit und Ungerechtigkeit entspringt, wird so in kulturelle Feinderklärungen kanalisiert. Konflikte um Migration, Identität und Nation überlagern materielle Fragen wie Lohnpolitik, Rentenreformen oder Vermögensverteilung.
Der Bruch der Brandmauer: Eine neue Rolle der Wirtschaft?
Die Entscheidung des Verbands der Familienunternehmer, die Brandmauer zur AfD aufzugeben, ist in diesem Kontext ein bedeutsames Signal. Zwar traten mehrere große Unternehmen aus dem Verband aus, doch der Vorgang offenbart ein strukturelles Risiko: Teile des Kapitals beginnen, Autoritarismus als legitime Option zu betrachten. Der Verband begründete seinen Kurswechsel damit, man müsse sich „inhaltlich mit allen auseinandersetzen“ – ein Argument, das im politischen Raum stets dann auftaucht, wenn bisherige Grenzen verschoben werden und Aussagen getätigt werden, die man bisher nicht aussprechen durfte.
Ein solcher Schritt normalisiert die AfD, verschiebt die Grenze des politisch Sagbaren und zeigt, dass bei bestimmten ökonomischen Akteuren eine Bereitschaft besteht, rechte Kräfte als Partner zu tolerieren, sofern sie ordnungspolitische, steuerpolitische oder unternehmensfreundliche Programme versprechen. Die Reaktionen innerhalb des Verbands selbst – Austritte und Distanzierungen – zeigen aber zugleich, dass Interessen der Konzerne keineswegs einheitlich sind. Für exportorientierte Unternehmen etwa kann ein autoritärer Nationalismus ökonomisch schädlich sein, wie die „Zollkriege“ mit den USA deutlich zeigen.
Politisch andere Formen – wirtschaftlich gleiche Funktion
Es wäre falsch anzunehmen, dass ein möglicher neuer Faschismus die gleichen Formen annehmen würde wie 1933. Moderne autoritäre Herrschaft bewegt sich sogar weltoffen: Alice Weidel, eine Lesbe, die mit einer nicht-weißen Frau liiert ist, ist die Vorsitzende der AfD. Gleichzeitig werden Gewerkschaften delegitimiert, soziale Rechte abgebaut und bisher gültige, vermeintlich linke Ideale marginalisiert. Einschränkungen des Streikrechts, Eingriffe in öffentlich-rechtliche Medien, scharfe Repression gegen politische Gegner, ein ethnisch definiertes Staatsverständnis und umfassende Entrechtung von Migranten sind Tendenzen, die bei Unternehmern prinzipiell keinen Schaden anrichten. Diese Politik richtet den Blick von sozialen Konflikten auf kulturelle und schwächt jene Kräfte, die für demokratische, soziale und ökonomische Rechte kämpfen.
Der Aufstieg der AfD ist eine Reaktion auf reale materielle Unsicherheiten, die in wirtschaftlichen Krisenperioden entstehen. Eine politische Antwort, die sich darauf beschränkt, moralische Appelle zu formulieren, verfehlt den Kern. Notwendig sind politische Programme, die materielle Sicherheit wiederherstellen: bezahlbarer Wohnraum, hohe Löhne, Ausbau sozialer Ausgaben, Investitionen in öffentliche Infrastruktur und Bildung. Nur auf dieser Grundlage kann der sozialen Basis rechter Politik der Boden entzogen werden.
„Alte“ Theorie, neue Relevanz
Dimitrovs Faschismusanalyse ist kein historisches Fossil. Sie bietet ein Werkzeug, um die gegenwärtigen Verwerfungen zu verstehen. Faschismus entsteht nicht aus dem Nichts. Er entsteht dort, wo Kapitalismus in Krisen gerät, wo soziale Unsicherheit wächst, wo demokratische Kräfte geschwächt sind und wo rechte Akteure in die entstandenen Lücken stoßen. Die Entwicklungen in Deutschland – von der ökonomischen Unsicherheit über die Wahlerfolge der AfD bis zum Brandmauerbruch in Teilen der Wirtschaft – zeigen, dass wir in einer Phase leben, in der sich politische Formen neu ordnen.
Das Kapital braucht nicht immer einen wirtschaftlich rationalen Partner. Es braucht einen funktionierenden Staat, eine politische Kraft, die bereit ist, in Krisenzeiten autoritäre Ordnungspolitik, soziale Disziplinierung, Abschottung und Repression gegen soziale Rechte und Forderungen zu betreiben. Für diese Funktion reicht es, wenn die Partei politisch wirksam ist — ihre wirtschaftlichen Ankündigungen müssen nicht konsistent sein.
Die AfD bietet genau solche Funktionen: Sie verspricht Disziplin, nationale Abschottung, Rücknahme von Umweltschutz- und Sozialauflagen, Angriffe auf demokratische Kontrollmechanismen, aggressive Rhetorik gegenüber Migranten, gewerkschaftsfeindliche Politik, „Germany first“. Das Kapital braucht keine vernünftigen Konzepte. Es braucht Funktionsfähigkeit. In der Krise wählt es nicht das durchdachte Wirtschaftsprogramm — es wählt die Faus, die Klassenherrschaft sichert. Die Öffnung von Wirtschaftsverbänden gegenüber der AfD zeigt: Der Kapitalismus ist bereit, Demokratie abzugeben, wenn Autorität effizient genug erscheint, im internationalen Konkurrenzkampf die besten Positionen für Deutschland zu ergattern.

