Der Fall Selahattin Demirtaş ist bei oberflächlicher Betrachtung ein Justizskandal. Bei genauerer Analyse jedoch entpuppt er sich als logische Konsequenz der Entwicklung des türkischen Staates zu einem bonapartistischen Ein-Mann-Regime, das jede oppositionelle Kraft mit aller Härte unterdrückt.
Die Weigerung der türkischen Regierung, das rechtskräftige Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zur sofortigen Freilassung von Demirtaş umzusetzen, ist keine juristische, sondern eine zutiefst politische Entscheidung. Justizminister Yılmaz Tunç verweist regelmäßig auf die angebliche Unabhängigkeit der nationalen Gerichte und den „Rechtsstaat“ und versucht damit, den juristischen Schein zu wahren. Jüngst erklärte er im Hinblick auf ein erwartetes Urteil des türkischen Hohen Gerichts, man müsse „abwarten, was das Gericht entscheidet“. Diese Aussage ist nicht nur zynisch, sondern auch rechtlich unhaltbar.
Gemäß Artikel 46 der Europäischen Menschenrechtskonvention ist die Türkei als Mitglied des Europarats verpflichtet, EGMR-Urteile umzusetzen. Die nationalen Gerichte sind dabei nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, die Urteile des Straßburger Gerichtshofs zu berücksichtigen. Doch die türkische Regierung hat längst ein System geschaffen, in dem formale Rechtsstaatlichkeit zur bloßen Fassade verkommt. Der Verweis auf das laufende Berufungsverfahren im sogenannten Kobane-Prozess gegen Demirtaş dient lediglich als Vorwand, um die politisch motivierte Inhaftierung aufrechtzuerhalten.
Der EGMR selbst ist freilich keine neutrale Instanz, sondern Teil des bürgerlich-imperialistischen Rechtssystems – eine Keule, die hervorgeholt wird, wenn ein Staat aus der Reihe tanzt. Dass seine Urteile ignoriert werden, sobald sie den strategischen Interessen einer regionalen Macht wie der Türkei zuwiderlaufen, offenbart die Grenzen dieses Systems. Die Unterdrückung der kurdischen Bewegung und der demokratischen Kräfte in der Türkei ist für den deutschen Staat ein hinnehmbarer Kollateralschaden im Streben nach Maximalprofit.
Der Staat als Gewaltmonopol der Herrschenden
Die türkische Justiz handelt nicht etwa fehlerhaft, sondern erfüllt exakt ihre Aufgabe: die Kriminalisierung und Neutralisierung einer politischen Figur, die die Interessen der werktätigen Massen – insbesondere der kurdischen Bevölkerung – artikuliert und die Hegemonie des herrschenden Blocks aus AKP und ihren Verbündeten grundsätzlich infrage stellt.
Der eigentliche Vorwurf lautet: Herausforderung Erdoğans und Organisation des demokratischen Widerstands. Die Verhaftung von Demirtaş im Jahr 2016 fiel nicht zufällig mit dem Zeitpunkt zusammen, als die HDP unter seiner Führung der AKP die absolute Mehrheit im Parlament nahm und somit die ungehinderte Durchsetzung der Agenda des Ein-Mann-Regimes behinderte. Es handelt sich um einen „präventiven Knast“ – ein politisches Instrument, um einen Gegner auszuschalten oder handlungsunfähig zu machen.
Die Heuchelei des Westens
Die „Doppelmoral“ der internationalen Gemeinschaft, insbesondere Deutschlands, ist keine „Verfehlung“, sondern Ausdruck der Widersprüche zwischen den Interessen deutscher Unternehmen und des Staates selbst. Die deutschen Monopole – vertreten durch Merz – benötigen die Türkei als Absatzmarkt, Billiglohnstandort und strategischen Partner zur Kontrolle von Migrationsströmen und zur militärischen und geopolitischen Einflussnahme. Die 60-Milliarden-Euro-Deals beim Merz-Besuch in Ankara Ende Oktober sind der Preis für diese Kooperation.
Gleichzeitig dient die bis zuletzt gepflegte rhetorische Menschenrechtskritik am türkischen Regime der ideologischen Legitimierung der eigenen Position. Doch Merz warf bei seinem letzten Besuch auch diese Fassade über Bord: Demokratie und Menschenrechte wurden gar nicht mehr thematisiert, und selbst ein symbolischer Anstandsbesuch bei der Opposition blieb aus.
Die Widersprüche im herrschenden Block: Bahçelis Kalkül
In der Türkei hingegen ist viel Bewegung in dieser brisanten politischen Frage. Die scheinbar überraschende Äußerung vom Ultranationalisten Devlet Bahçeli (MHP) zur möglichen Freilassung von Demirtaş offenbart strategische Risse innerhalb der Regierung. Diese sind aber nicht persönlicher, sondern struktureller Natur. Die AKP ist in ihrer eigenen Polarisierungsstrategie gefangen. Sie hat ihren bonapartistischen Charakter so weit zugespitzt, dass sie kaum noch politische Manövriermasse besitzt. Eine Freilassung von Demirtaş würde von ihrer eigenen, durch chauvinistische und religiöse Ideologie mobilisierten Basis als Schwäche interpretiert werden und die fragile Hegemonie innerhalb des Machtblocks gefährden. Der kleine Koalitionspartner MHP hingegen vertritt als ultranationalistische Partei die Interessen eines Teils des Großkapitals und der staatsbürokratischen Elite, für die die langfristige Stabilität des Systems Vorrang hat. Aus dieser Perspektive sind der ständige Konflikt mit dem Westen und die permanente innere Repression ökonomisch schädlich und gefährden die Stabilität des Staates.
Bahçeli erkennt, dass der inhaftierte Demirtaş als Symbolfigur des Widerstands womöglich mächtiger ist, als der freie. Seine kontrollierte Freilassung könnte die demokratische Bewegung spalten und entschärfen – ein klassisches Manöver, um durch scheinbare Zugeständnisse die demokratische Dynamik zu ersticken.
Dieser Widerspruch der Türkei ist Ausdruck der unterschiedlichen Fraktionen innerhalb der herrschenden Klasse über die taktisch geschickteste Methode, ihre Herrschaft zu sichern.
Der Kampf geht weiter
Die sofortige Freilassung von Selahattin Demirtaş ist eine dringende demokratische Forderung. Doch der Kampf darf hier nicht enden. Er muss Teil eines umfassenderen Kampfes für Demokratie, Menschen-, Arbeiter- und Frauenrechte sowie für Frieden für das kurdische Volk sein.
Die Losung von Demirtaş – „Sie können uns einsperren, aber sie können unsere Hoffnung nicht einsperren“ – ist richtig. Sie muss jedoch mit der Erkenntnis verbunden werden, dass diese Hoffnung nur durch den organisierten und gemeinsamen Kampf der Massen verwirklicht werden kann.
Die Solidarität mit Demirtaş ist Solidarität mit allen politischen Gefangenen. Ihre Befreiung wird nicht durch Appelle an die Herrschenden erkämpft, sondern durch den unnachgiebigen Druck der Straße und die Stärke der organisierten Arbeiterbewegung.

