Written by 15:08 DEUTSCH, TÜRKEI

Ein aufgegebenes Ideal: Die Menschenrechte…

Şebnem Korur Fincancı

In dieser Woche wird sowohl in der Türkei als auch in vielen Teilen der Welt der 77. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen begangen. Zahlreiche Veranstaltungen erinnern an ihre Entstehung, beleuchten ihre Bedeutung und werfen ein hoffnungsvolles Licht auf die Zukunft. Die Menschenrechtsverletzungen des vergangenen Jahres werden berichtet und es werden Worte über die Erklärung gefunden, die vor 77 Jahren als Ergebnis des Kampfes für universelle Menschenrechte entstanden ist, unser aller Leben berührt und das wichtigste Gründungsdokument unserer Zeit darstellt.

Die Menschenrechtsverein (İHD) und die Türkische Menschenrechtsstiftung (TİHV) haben auch in diesem Jahr wieder eine Erklärung veröffentlicht, in der sie die Last betonen, die das Versagen beim Aufbau einer auf Menschenrechten basierenden Welt mit sich bringt.

Die Daten der Dokumentationszentren von İHD und TİHV zeigen bereits anhand der Verletzungen des Rechts auf Leben im Zeitraum der ersten elf Monate des Jahres 2025, wie fern wir in der Türkei von einem Land sind, das sich tatsächlich an den Menschenrechten orientiert:

– Drei Menschen wurden von Sicherheitskräften durch außergerichtliche Hinrichtungen, durch Schüsse aufgrund eines angeblich nicht befolgten Haltbefehls oder durch willkürliches Feuer getötet; fünf weitere wurden verletzt.
– Eine Person im Polizeigewahrsam sowie zwei Personen in Rückführungszentren für Geflüchtete starben unter verdächtigen Umständen.
– Bei bewaffneten Auseinandersetzungen und Operationen innerhalb der Türkei sowie in Syrien und in der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak kamen mindestens 73 Menschen ums Leben: 24 Sicherheitskräfte, 48 „Gegner“ und ein Zivilist.
– In Gefängnissen starben mindestens sechzehn Menschen infolge von Krankheit, Suizid, Gewalt, Vernachlässigung oder durch bewaffnete Angriffe von außen.
– Durch rassistisch motivierte, fremdenfeindliche und hasserfüllte Angriffe, die sich gegen Geflüchtete, Kurden, LGBTQI+, Aleviten und verschiedene religiöse Gruppen richteten, wurde mindestens eine Person getötet und zwanzig verletzt.
– Bei bewaffneten Angriffen auf Umwelt- und Lebensrechtsverteidiger wurde mindestens eine Person verletzt.
– Mindestens 26 Menschen kamen während ihres Wehrdienstes durch Unfälle, Explosionen, Suizid oder auf verdächtige Weise ums Leben; fünf weitere wurden verletzt.
– Nach Angaben des Rats für Arbeitsgesundheit und Arbeitssicherheit (İSİG) starben in den ersten elf Monaten des Jahres 2025 mindestens 1.956 Arbeiter infolge von Arbeitsunfällen oder Arbeitsverbrechen.
– Laut Bianet wurden in diesem Zeitraum mindestens 271 Frauen und 60 Kinder von Männern getötet.

Die Zahl der Verstöße ist erschütternd – und selbst die bloße Aufzählung der Verletzungen des Rechts auf Leben sprengt den Rahmen dieses Textes. Doch ein letztes Wort zur Folter darf nicht fehlen.

In einem System, das Folter normalisiert, sie gegenüber dem „Anderen“ billigend in Kauf nimmt und dabei vergisst, dass auch wir eines Tages die „Anderen“ sein können, wurden laut Justizstatistik im Jahr 2024 lediglich 838 Ermittlungen wegen der zusammengeführten Delikte Folter und Misshandlung eingeleitet. Dabei haben allein bei der İHD fast 3.000 Menschen Foltervorwürfe erhoben. Wer die tatsächliche Dimension erahnen möchte, sollte einen Blick auf Artikel 265 des Türkischen Strafgesetzbuches werfen: Wegen des Vorwurfs des „Widerstands gegen die Staatsgewalt“, der häufig genutzt wird, um Anzeigen wegen Folter zu verhindern, wurden 26.491 Anklagen erhoben. Diese Zahl spricht für sich.

Heute, da die Menschheit mehr denn je nach Würde, Gleichheit und Gerechtigkeit verlangt, ist es an der Zeit, unsere aus dem bloßen Menschsein erwachsenden Rechte zu schützen – und das aufgegebene Ideal der Menschenrechte wieder einzufordern. (Evrensel, 11.12.2025)

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