Wenn der türkische Arbeitsminister Vedat Işıkhan verkündet, der Mindestlohn sei „reell um 242 % gestiegen“, dann beschreibt er keine Realität, sondern eine Fata Morgana. Hinter den glänzenden Zahlen steht ein Land, in dem Millionen Menschen trotz Arbeit hungern, in Fabriken sterben und eine kleine Elite immer reicher wird. Die Türkei ist heute ein Labor des neoliberalen Kapitalismus – ein Ort, an dem Arbeit systematisch entwertet und Ungleichheit politisch organisiert wird.
Der Mythos vom Wohlstandswachstum
2002 lag der Mindestlohn bei 184 TL, heute bei 22.104 TL. Doch während man damals mit einem Monatslohn sieben Viertel-Goldstücke („Ceyrek altin“) kaufen konnte, reicht das Geld heute nur für zweieinhalb. Die Kaufkraft der Arbeitenden hat in 20 Jahren um mehr als zwei Drittel abgenommen.
Die AKP-Regierung hat den türkischen Kapitalismus verschärft: Sozialstaat abgebaut, Löhne gedrückt, den Export zum heiligen Prinzip erklärt, wie das auch in Deutschland üblich ist. Unter dem Schlagwort „Wettbewerbsfähigkeit“ wurde ein System geschaffen, in dem Arbeit billig sein muss, damit Kapital fließen kann – Sparpolitik, Deregulierung, Prekarität.
Reichtum im Palast – Elend in den Hütten
Während Arbeiter in petrochemischen Betrieben „AÇIZ“ („Wir sind hungrig“) in die Pausenlisten schreiben, verschlingt der Präsidentenpalast stündlich das Äquivalent von 72 Arbeiterlöhnen. Diese Extreme sind Ausdruck einer Klassenstruktur, in der politische Macht mit ökonomischer Beute verschmilzt.
Die neue Palastbürokratie lebt von Umverteilung nach oben. Der Mythos der „Neuen Türkei“ war stets die Fassade einer neuen Bourgeoisie, islamisch im Ton, neoliberal-kapitalistisch in der Praxis. Heute kontrollieren die obersten 10 % mehr als die Hälfte des Volkseinkommens, während die untere Hälfte sich mit 14 % begnügt.
Arbeit und Tod – der Preis des Profits
Minister Işıkhan behauptet, Arbeitsunfälle seien zurückgegangen. Tatsächlich starben allein 2024 fast 1.900 Menschen bei der Arbeit, darunter 15 Kinder. Von der Goldmine in İliç bis zur Explosion bei ZSR Patlayıcı Sanayi: Die Industrie der Türkei ist ein Massengrab der Billigproduktion.
Diese Toten sind keine Zufälle, sondern strukturell bedingt. Der Kapitalismus in der Türkei lebt von Überausbeutung. Arbeitsschutz gilt als „Hindernis für Wettbewerbsfähigkeit“, Gewerkschaften werden eingeschüchtert oder zerschlagen. Die Sozialpolitik schützt die Arbeiter nicht, sie diszipliniert sie – durch Rentenkürzungen, Abbau von Kündigungsschutz und Kriminalisierung jedes Widerstands.
Hunger als Disziplinierungsinstrument
Wenn junge Arbeiter mit einer Mahlzeit am Tag auskommen müssen, ist das kein Einzelfall, sondern ein System. Ein hungriger Arbeiter streikt nicht, er überlebt. Lohnpolitik dient dazu, Arbeitskraft zu erhalten, ohne sie zu stärken.
Der Kapitalismus braucht Armut, um Löhne zu drücken. In der Türkei wird sie politisch produziert – durch Inflation, Repression und die Zerstörung von Tarifstrukturen. Selbst Facharbeiter verdienen kaum mehr als den Mindestlohn. Diese Verhältnisse sind kein Zufall, sondern bewusstes Management sozialer Schwäche.
Der Mindestlohn als politische Waffe
Der Mindestlohn ist längst keine soziale Maßnahme mehr, sondern ein politisches Instrument. Vor Wahlen wird er stark erhöht, um Zustimmung zu gewinnen; danach wird er durch Inflation wieder entwertet. 2025 etwa stieg er nominell um 30 %, während die Inflation offiziell 44 % betrug – real eher 60 %. Ergebnis: eine verdeckte Lohnkürzung.
Die Regierung verkauft das als „Verantwortung“. In Wahrheit dient es der Umverteilung von unten nach oben. Während die Löhne sinken, steigen die Gewinne im Exportsektor – etwa bei Hyundai, Mercedes oder Ford Otosan. Ihre Arbeiter verdienen rund 32.000 TL im Monat, kaum über dem Existenzminimum.
Das Argument, höhere Löhne würden die Inflation antreiben, ist ökonomisch schwach. Studien zeigen, dass ein zehnprozentiger Lohnanstieg die Preise höchstens um 1–2 Punkte erhöht – ein minimaler Effekt verglichen mit der Entlastung, die er bringt. Die wirklichen Ursachen der Inflation liegen in der Abhängigkeit von Importen und im strukturellen Handelsdefizit – also in den Mechanismen des Kapitalismus, nicht in den Lohntüten der Arbeiter.
Internationale Abhängigkeit – nationale Ohnmacht
Der türkische Kapitalismus ist nicht souverän, sondern neokolonial: Er exportiert billige Arbeitskraft und importiert teure Technologie und Energie. Die Regierung hält das Land für ausländisches Kapital attraktiv, koste es, was es wolle. Die Bevölkerung wird zu einem Niedriglohnreservoir, das flexibel und kontrollierbar bleibt.
Religiöse und nationalistische Rhetorik dienen als ideologisches Schmiermittel. Der Kapitalismus wird als „Dienst am Vaterland“ verklärt, Ausbeutung als Opferbereitschaft. Wer widerspricht, gilt als Verräter oder Terrorist. Die Predigt ersetzt den Arbeitsvertrag und die Hoffnung auf ein Leben danach im Paradies bleibt für viele der letzte Strohhalm.
Zerfall der sozialen Reproduktion
In den Straßen zeigt sich die Krise: explodierende Mieten, unbezahlbare Bildung, zusammenbrechende Gesundheitsversorgung. Die arbeitende Bevölkerung finanziert mit ihren Steuern eine Staatsmaschine, die gegen sie selbst arbeitet. Während die Palastelite Milliarden verschwendet, müssen Familien entscheiden, ob sie Miete zahlen oder Brot kaufen.
Diese strukturelle Verarmung zerstört das soziale Gefüge. Kinderarbeit kehrt zurück, junge Erwachsene wandern aus, Rentner müssen weiterarbeiten. Arbeit bedeutet längst nicht mehr Würde, sondern Erschöpfung und Angst.
Widerstand und Perspektive
Trotz Repression und Medienkontrolle wächst die Wut. Die Metallarbeiter bei den MESS-Verhandlungen zeigen, dass die Geduld der Beschäftigten erschöpft ist. Die Weigerung, weitere Reallohnverluste zu akzeptieren, ist mehr als eine ökonomische Forderung – sie ist existenziell.
Die Wiedergeburt einer kämpferischen Arbeiterbewegung ist die einzige Hoffnung auf Veränderung. Erdoğan hat den Kapitalismus nicht „islamisiert“, sondern autoritär zugespitzt. Seine Politik ist kein Zufall, sondern Ausdruck einer Klasse, die Reichtum, Kontrolle und Unterordnung will.
Die Realität in der Türkei zeigt, was Kapitalismus in seiner reinsten Form bedeutet: Reichtum wächst – aber nicht für die, die ihn schaffen. Minister prahlen mit Zahlen, während Arbeiter hungern. Der Palast verschlingt Milliarden, während Kinder in Werkshallen sterben.
Der Kapitalismus in der Türkei hat die Fähigkeit verloren, Hoffnung zu erzeugen. Er produziert nur noch Anpassung oder Verzweiflung. Wer Gerechtigkeit will, muss ihn selbst infrage stellen – denn solange dieses System besteht, wird kein Minister den Hunger beenden.