Von Yıldız Eren / Paris
Während in Frankreich die Regierungen reihenweise fallen, hat Präsident Emmanuel Macron einen neuen Premierminister ernannt. Wie lange er im Amt bleiben wird, ist ungewiss. Auch der neue Premierminister und ehemalige Verteidigungsminister Stéphane Lecornu wird wahrscheinlich von dieser Welle erfasst werden. Seit 2022 sind bereits fünf Regierungen und fünf Premierminister gescheitert. Ihr Ende war stets dasselbe: Sparpakete, die auf die Zerschlagung des französischen Sozialversicherungssystems und die Enteignung der letzten Reste von Arbeiterrechten abzielten – gefolgt von der Absetzung von Regierungsteams, die der Macht des Kapitals dienten und letztlich der Macht der Straße zum Opfer fielen.
In den letzten Sommertagen, nach den Ferien, ertönten im ganzen Land Aufrufe, „das Leben anzuhalten“. Anführer der „Gelbwesten“-Bewegung, die 2018 monatelang mit Macrons Regierung kollidierten und landesweit Barrikaden errichteten, riefen gemeinsam mit rebellischen Jugendlichen und Intellektuellen, die soziale Medien nutzten, erneut zu solchen Aktionen auf. Sie forderten, die Flaggen des Widerstands wieder zu hissen.
Auch wenn es zunächst nicht gelang, das öffentliche Leben und die Produktion völlig lahmzulegen, heizten sich die Plätze am 10. September auf: Arbeiter, Beamte sowie Universitäts- und Gymnasiasten erklärten: „Wir sind diejenigen, die das Leben schaffen – und wir werden diejenigen sein, die es anhalten.“ Rund 250.000 Menschen gingen landesweit auf die Straße. Für den 18. September wurden neue Aktionen angekündigt.
Am 18. September riefen die Gewerkschaften zu einem landesweiten Streik, zu Schulboykotten und zu einem Generalstreik im öffentlichen Nahverkehr auf. Ihre Botschaft an Macron und sein Team lautete: „Dieses Land ist nicht euer Bauernhof – ihr müsst auf unsere Forderungen hören.“ Die Beteiligung an diesem Aktionstag war sehr hoch.
Die Demonstrationszüge sprengten die Plätze
Schon in den frühen Morgenstunden reichten die Demonstrationszüge, vor allem in Marseille, nicht aus, um auf die Plätze zu passen. In Nizza organisierten die Gewerkschaften erstmals seit vielen Jahren wieder einen Aktionstag mit den Parolen: „Weg mit eurem Haushalt! Unsere Kaufkraft muss steigen! Die Rentenreform muss gestrichen werden!“
Der 18. September wurde so zu einem Tag der sozialen Unzufriedenheit und des Aufstands gegen Macron und das Kapital, die den Wählerwillen missachtet hatten. Macron ignorierte bekanntlich die Kandidaten der Neuen Volksfront (NFP), die bei den letzten Wahlen erfolgreich waren, und versuchte, das Land mit Kandidaten aus ihm nahestehenden Parteien und Fraktionen zu regieren – ohne Mehrheit. Die Amtszeit des ersten Premierministers nach der Wahl, Michel Barnier, war sehr kurz; sein Nachfolger François Bayrou scheiterte ebenfalls mit seinem unsozialen Haushalt.
Trotz fast einjähriger Proteste der Gewerkschaften gegen das Rentenpaket von 2023 setzte Macron die Reform per Dekret durch, ohne sie im Parlament abstimmen zu lassen. Danach musste Premierministerin Élisabeth Borne zurücktreten – und auch ihre Nachfolger hatten dasselbe Schicksal.
Einheit der Gewerkschaften brachte den Erfolg
Der Erfolg des Aktionstags am 18. September beruhte vor allem auf der Einheit der Arbeiter- und Beamtengewerkschaften. Hunderttausende marschierten entschlossen unter dem Slogan „Wir werden Widerstand leisten“ gegen die Angriffswelle. Die Kundgebung auf dem Pariser Bastille-Platz gilt als Auftakt für die kommenden Protesttage.
Die Gewerkschaften – allen voran der Dachverband CGT sowie CFDT, SUD, FSU und FO – fordern vom neuen Premierminister die Rücknahme des Haushaltsplans der gestürzten Regierung, die Annullierung der Rentenreform und die Stärkung der Kaufkraft.
Breite Streikbeteiligung
Besonders stark war die Beteiligung im Bildungsbereich: Rund 45 Prozent der Lehrkräfte streikten. Im öffentlichen Nahverkehr, bei Bahn und Metro, kam der Betrieb vollständig zum Erliegen. Auch Universitäts- und Gymnasiasten beteiligten sich massiv.
Doch wie lange wird die politische Instabilität in Frankreich andauern? Stéphane Lecornu, den Macron für die kommenden zwei Jahre eingesetzt hat, bereitet derzeit die Bildung einer neuen Regierung vor. Er führt Gespräche mit Vertretern politischer Parteien und Gewerkschaften. Vertreter der Sozialistischen Partei (PS) und der Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF) kündigten bereits an, Lecornu abzulehnen, solange er ihre Forderungen nicht erfüllt. Das Bündnis „Unbeugsames Frankreich“ (LFI) verweigerte ihm sogar jedes Gespräch.
Reflexionen vom „Humanité“-Fest
Die wachsende Bewegung spiegelte sich auch im traditionellen Fest der Zeitung Humanité wider, das am vergangenen Wochenende stattfand. Mehr als 600.000 Menschen nahmen daran teil.
Das Fest, ein Treffpunkt der fortschrittliche Kräfte des Landes, wurde drei Tage lang geprägt von Aufrufen der Arbeiter und Werktätigen zum Kampf gegen die Angriffspläne des Kapitals, gegen Kriegstreiberei und gegen steigende Rüstungsbudgets. Die Beteiligung war deutlich höher als im Vorjahr.
Die Ideale der Zeitung Humanité, die seit 1930 Bestand haben, finden bis heute Anklang. Jedes Jahr dient das Fest auch der Vorbereitung kommender Kampftage.
Neuer Aufruf für den 21. September
Die Frage bleibt: Wie lange wird die Bewegung in Frankreich anhalten? Die Plattform der intergewerkschaftlichen Einheit kündigte an, die Proteste fortzusetzen. Zugleich wächst die Unzufriedenheit über die massiven Militärausgaben und Kriegsvorbereitungen, die im Staatshaushalt Vorrang haben. Auch der Rückgang der Kaufkraft, die Zerschlagung des Sozialversicherungssystems und die Anhebung des Rentenalters werden nicht widerstandslos hingenommen werden.
Für den 21. September ist ein neuer Aktionstag geplant. Dieses Datum ist in Frankreich symbolträchtig: An diesem Tag wurde die Monarchie abgeschafft und ihren Privilegien ein Ende gesetzt. Besonders „Unbeugsames Frankreich“ und die Plattform „Das Leben anhalten“ rufen für diesen Tag zu Protesten auf.
Ob der neue Premierminister bereits unter der Welle der Proteste vom 18. September stürzt, bleibt abzuwarten.

