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Ich liebe dich, Babaanne!

Yusuf Nazım / T24

Kann aus der Grausamkeit, die die Unschuld eines Kindes der Kälte einer dicken Glasscheibe

ausliefert, Frieden entstehen?

Das Kind ist gerade vier Jahre alt, wenn überhaupt. Goldenes Haar, braune Augen. Es steht

staunend vor der Scheibe, blickt hinüber. Einen Moment beugt es sich, presst seine Wange voller

kindlicher Unschuld an das Glas. Mit seinem hauchzarten Atem beschlägt es die Scheibe, kleine

Hände legen sich an die kalte Fläche.

Auf der anderen Seite die alte Frau… Mit einem gebrochenen Lächeln, das aus der Tiefe ihres

Herzens aufsteigt, beugt sie sich nach vorn, drückt ihre Lippen an das Glas. Statt der winzigen

Kinderwange bleibt ein warmer Kuss auf der kalten Scheibe zurück.

Das Kind richtet sich flatternd wie ein Vogelherz wieder auf. Diesmal legt die Frau hinter der

Scheibe ihre Wange ans Glas. Sehnsüchtig streckt sich das Kind, presst seine Lippen dagegen.

„Ich liebe dich, Babaanne“, sagt es.

„Ich liebe dich auch“, antwortet die Frau. „Na, halt mal deine Wange hin.“

Wer weiß – vielleicht hält das Kind das Ganze für ein Spiel. Es legt seine Wange wieder gegen die

Scheibe, die sie trennt. Die Frau beugt sich voller Sehnsucht vor und küsst statt der weichen

Wange des Enkels nur das kalte Glas. Dann wiederholt sie die Geste, bläst ihre Wange ein wenig

auf – auf der Scheibe erscheint eine Wange, davor die Lippen des Kindes, die sich sehnsüchtig und

warm aufdrücken:

„Ich liebe dich, Babaanne.“

Auf der einen Seite der Glaswand: eine Architektin, Stadtverteidigerin, die ihren 67. Geburtstag im

Gefängnis verbringt.

Auf der anderen Seite: ihr vierjähriges Enkelkind, das aus Österreich angereist ist, um sie zu

sehen…

Doch offener Besuch ist verboten. Nur Trennscheibenbesuch. Berühren verboten, umarmen

verboten, die Stimme hören auch… Ihr Wiedersehen spielt sich in der Kälte einer dicken

Glasscheibe ab.

Das kleine Kind kann seine Babaanne nicht umarmen, versteht nicht, warum es ihre warmen,

liebevollen Küsse nicht auf seinen Wangen spüren darf, warum es seine winzigen Finger nicht in

die Handflächen der Großmutter legen kann. Vielleicht hält es das alles für ein Spiel, vielleicht für

einen Streich aus seiner Fantasie.

Das Enkelkind ist vier Jahre alt. Es versteht Türkisch, antwortet aber immer auf Deutsch:

„Ich liebe dich, Babaanne.“

„Ich liebe dich, Babaanne.“

Die Schwiegertochter, EU-Bürgerin, reist mit ihren beiden kleinen Kindern an, um Güzin Alpaslan

im Gefängnis zu besuchen. Mit ihren eigenen Papieren treten sie problemlos ins Land ein. Doch ins

Gefängnis darf sie nicht! Obwohl in den Familienregistern ihre Ehe klar eingetragen ist.

Die Enkelkinder, türkische Staatsbürger, dürfen nur den Trennscheibenbesuch wahrnehmen.

Großmutter und Enkel stehen an der Schwelle, ihre Sehnsucht zu stillen. Eine dicke, schalldichte

Glaswand trennt sie.

Güzin Alpaslan. Absolventin der Technischen Universität Istanbul, Architektin, Stadtverteidigerin.

Ein Leben lang hat sie für Stadt- und Umweltrechte gekämpft. Gemeinsam mit der

Architektenkammer stellte sie sich gegen spekulative Bauprojekte, träumte von Städten, die

Katastrophen standhalten können…

Kurz: Eine Architektin, die nicht für Profit, sondern für die Menschen, für ein freies und gleiches

Land kämpfte.

Doch eines Morgens… eines Morgens stürmen schwer bewaffnete Einsatzkräfte ihr Haus. In einem

Brief aus dem Gefängnis schreibt sie:

„Um fünf Uhr morgens wird mein Haus von bewaffneten Einheiten gestürmt. Mein Mann, der die

Tür öffnet, wird zu Boden geworfen. Waffen werden auf uns gerichtet. Mit Handschellen an den

Händen, von rund dreißig Bewaffneten umzingelt, sehe ich draußen eine Flotte von PKWs,

Kleinbussen und seltsamen Fahrzeugen.“

Mit diesen Worten beschreibt Güzin Alpaslan die Grausamkeit, die am 11. Februar vor ihrer Tür

stand. Ihre „Schuld“: Sie wurde mit der Stimme des Volkes zur Stadträtin im Istanbuler Bezirk Fatih

gewählt. „Versuch einer städtischen Verständigung“ heißt es in den Akten der Staatsanwaltschaft.

Weil sie angeblich einen „Versuch zur Stadtversöhnung“ unternommen hat, wurde ihr Haus

gestürmt – und darum sitzt sie seit 189 Tagen in Haft…

In einem Besuchsraum des Frauengefängnisses Baknrköy stößt das Flüstern eines Kinderherzens

gegen das Glas:

„Ich liebe dich, Babaanne.“

Zur selben Zeit laufen in den verschlossenen Räumen einer anderen Stadt „Friedensgespräche“.

Doch unsere Träume sollten uns unverfälschte Worte bewahren.

Sag, kann aus der Grausamkeit, die ein Kindergesicht an kaltes Glas presst, Frieden entstehen?

Welche „Gerechtigkeit“ aus den Händen derer, die das Recht in blinde Brunnen werfen, kann eine

Lebenswunde heilen?

Wieder fallen Lügenworte in unsere Unschuld.

In den Kerkern von Baknrköy berühren kleine Wangen erneut das Glas, auf der anderen Seite die

sanften Küsse einer Frau. Ein Traum verlässt unser Leben, eine Hoffnung weniger. Wenn die

Wangen einer Frau das Glas berühren, berührt die Unschuld eines Kindes unser Herz:

„Ich liebe dich, Babaanne.“

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