Die Entscheidung der Kommission für „Nationale Solidarität, Geschwisterlichkeit und Demokratie“, eine Delegation nach İmralı zu schicken, ist mit 32 Ja-Stimmen bei drei Gegenstimmen und zwei Enthaltungen deutlich ausgefallen. Auf der Gefängnisinsel İmralı ist seit 1999 der Führer der kurdischen PKK, Abdullah Öcalan, inhaftiert.
Ein klares Abstimmungsergebnis bedeutet jedoch noch keinen klaren politischen Kurs. Auch wenn der Schritt als historisch bezeichnet wird, stellt sich die zentrale Frage, ob dieser Besuch den Einstieg in einen Friedensprozess markiert oder lediglich die nächste Inszenierung eines politisch kontrollierten Rituals ist, das mehr der Stabilisierung der Machtverhältnisse von Erdogan dient, als einer wirklichen demokratischen Öffnung.
CHP isoliert sich politisch
Die Rolle der CHP wirkt in diesem Prozess besonders widersprüchlich. Ihre Abgeordneten verließen den zweiten Teil der Sitzung, als sie in den geschlossenen Modus überführt wurde. Der Verweis auf die Prinzipientreue – Frieden könne nicht im Geheimen verhandelt werden – wirkt einerseits verständlich. Andererseits stellt sich die Frage, ob man historische Entscheidungen wirklich beeinflussen kann, indem man den Raum verlässt. Die größte Oppositionspartei des Landes nimmt damit nicht am Tisch Platz, sondern bleibt außen vor. Während sie auf Transparenz pocht, überlässt sie jenen Kräften das Feld, die am wenigsten an einem umfassenden demokratischen Wandel interessiert sind. Die CHP isoliert sich damit ausgerechnet in einem Moment, in dem eine starke parlamentarische Opposition dringend gebraucht wäre.
Bayhan: „Ein Besuch ohne demokratische Infrastruktur ist nur ein Besuch“
Während andere schweigen oder den Raum räumen, formuliert İskender Bayhan, Abgeordneter der EMEP (Partei der Arbeit) jene Perspektive, die in dieser Phase unverzichtbar ist. Er warnte davor, den gesamten politischen Prozess auf die Frage eines İmralı-Besuchs zu verengen. Die Kommission müsse das Thema Demokratisierung des Landes umfassend behandeln, denn, so Bayhan: „Es ist nicht richtig, dass sich der Prozess auf die Frage eines İmralı-Besuchs verengt. Die Kommission darf das Thema nicht so behandeln, sondern muss es als natürlichen Bestandteil des gesamten Prozesses verstehen.“ Er kritisierte zudem, dass die Regierung beim Thema İmralı weiterhin keine klare Haltung bezieht, und forderte eine plural zusammengesetzte Delegation: Fraktionen im Parlament müssen vertreten sein, Parteien ohne Fraktionsstatus sollten sich auf Wunsch anschließen können.
Bayhan sprach sich ebenfalls entschieden gegen eine geschlossene Sitzung aus und verlangte vollständige Transparenz. Die Protokolle eines möglichen Treffens mit Öcalan müssten der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden; auch ein zweites Gespräch könne stattfinden, wenn nötig unter Beteiligung aller Kommissionsmitglieder. „Das ist kein Luxus, keine Übertreibung – es ist ein natürlicher Bedarf dieses Prozesses. Öcalan wurde 1999 monatelang live im Fernsehen vor Gericht gestellt; deshalb müssen die Schritte heute transparent sein.“
Mit Blick auf die geheim geführten Beratungen zog Bayhan eine klare Grenze: „Frieden kommt nicht im Geheimen, Frieden kommt nicht hinter verschlossenen Türen.“ Wenn alle Parteien ihre Positionen öffentlich dargelegt hätten, gebe es keinen Grund für eine nichtöffentliche Sitzung. Der Prozess müsse nachvollziehbar sein, andernfalls verliere er seine demokratische Legitimation.
Vor allem aber macht Bayhan deutlich, dass ein Besuch auf der Insel allein keinen politischen Durchbruch darstellt. Was fehle, sei ein demokratischer und juristischer Rahmen, der aus einem symbolischen Akt eine politische Perspektive macht. Ohne diesen Rahmen bleibe die Mission ein isolierter, beinahe technokratischer Vorgang, der keine nachhaltige Wirkung entfalten könne.
Symbol der Hoffnung – oder Inszenierung der Macht?
Dass die Delegation aus Vertretern von AKP, MHP, DEM-Partei und der Yeni-Yol-Gruppe bestehen soll, zeigt die enge politische Kontrolle über das Format. Die Regierung sendet damit das Signal, dass sie bereit ist, Öcalan als Gesprächspartner anzuhören. Doch der Rahmen, in dem dies geschieht, bleibt eng bemessen. Der Staat möchte Ruhe im Land, aber keine demokratische Transformation. Er möchte die Einstellung der Gewalt, aber nicht die Anerkennung der politischen Rechte, die notwendig wären, um diese Einstellung dauerhaft zu machen. Es ist ein altbekanntes Muster: Die AKP-Administration fordert Schweigen und Stillstand, während sie selbst keinen Schritt in Richtung Gleichheit, Rechtssicherheit oder breiter gesellschaftlicher Teilhabe geht.
Die Geschichte zeigt jedoch, dass ein Friedensprozess kein mediales Ereignis und kein diplomatischer Kurzbesuch ist. Er verlangt ein öffentlich nachvollziehbares Verfahren, einen verbindlichen rechtlichen Rahmen für sichere Rückkehr und politische Teilhabe, die Aufhebung der Isolation Öcalans, damit dieser überhaupt politisch handeln kann, und die Einbeziehung jener gesellschaftlichen Kräfte, die seit Jahrzehnten für Demokratie kämpfen. „Ohne Gewerkschaften, Frauenbewegungen, lokale Initiativen und demokratische Organisationen bleibt jeder Prozess ein Projekt, das an der Realität vorbeigeht.“, so Bayhan in seiner Rede.
Ein historischer Moment
Der geplante Besuch könnte tatsächlich ein Wendepunkt werden. Doch dies geschieht nur, wenn er der Beginn eines offenen, strukturierten und demokratisch legitimierten Friedensprozesses ist. Sollte Ankara lediglich ein weiteres symbolisches Kapitel eröffnen, sollten die Protokolle nach dem Treffen in Schubladen verschwinden und die Opposition weiterhin den Raum meiden, dann wird auch dieser Moment ungenutzt verstreichen. Die Insel İmralı wäre dann erneut das Sinnbild verpasster politischer Möglichkeiten.
Die eigentliche Entscheidung fällt also nicht auf dem Boot zur Insel, sondern im politischen Willen auf dem Festland. Und genau dort zeigt sich derzeit ein eklatantes Defizit. Während Bayhan die notwendigen Schritte klar benennt, bleibt die Regierung bei ihrer „kontrollierten Öffnung“ stehen und die CHP verharrt in selbstverschuldeter Distanz. Es ist dieser Gegensatz, der darüber entscheiden wird, ob der Besuch der Anfang eines neuen politischen Kapitels wird oder nur ein weiteres Ritual im langen Schatten ungelöster Fragen.

