Am 2. Oktober stellten Dr. Muriel Assenburg (Senior Fellow, Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten, Stiftung Wissenschaft und Politik), Philip Holzapfel (ehem. MENA-Berater für den Hohen Vertreter der EU Dr. Josep Borrell) und Dr. Alexander Schwarz (Experte für Völkerrecht und Völkerstrafrecht) bei einer Bundespressekonferenz das Expertenpapier für eine nahostpolitische Wende unter dem Titel „Jenseits der Staatsraison – Wie historische Verantwortung, strategische Interessen und Völkerrecht in Einklang gebracht werden können“ vor. Das Papier wurde von zahlreichen Wissenschaftlern, Juristen und Menschenrechtlern entwickelt und stellt zehn Kernforderungen an die Bundesregierung.
Die Verfasser formulieren bereits zu Beginn eine grundlegende Kritik an der Politik der Staatsräson: „Die vage definierte politische Doktrin, die den vordemokratischen Begriff der „Staatsraison“ wiederbelebt hat, hat die Unterstützung für die israelische Regierung über die rechtlichen und moralischen Verpflichtungen Deutschlands, über nationale und europäische Interessen, die Grundrechte der Palästinenser, das Schicksal der israelischen Geiseln und regionale Friedensbemühungen gestellt […] Israels Zerstörung des Gazastreifens in den vergangenen zwei Jahren hat die Unvereinbarkeit der Doktrin mit dem Grundgesetz sowie Deutschlands weiterer historischen Verantwortung immer deutlicher gemacht. Es ist Zeit für einen Neuanfang“. Untermauert wird diese Kritik mit juristischen, sozialen und friedenspolitischen Ansätzen.
Völker- und EU-Recht durchsetzenDeutschland und die EU sollen das Völkerrecht strikt anwenden und durchsetzen — z. B. durch Aussetzung des Assoziierungsabkommens mit Israel, ein Importverbot für Siedlungsprodukte und ein umfassendes Waffenexportverbot an Israel.
2. Gleiche Rechte und Selbstbestimmung bei Friedensbemühungen priorisieren
Die Zweistaatenlösung soll ernsthaft verfolgt werden, aber nicht als Vorwand dienen, um Palästinensern Rechte zu verweigern. Deutschland sollte Palästina gemäß den Grenzen von 1967 anerkennen und die Arabische Friedensinitiative stärker betonen.
3. Zivilgesellschaftliches Engagement für Frieden und Versöhnung stärken
Förderung und Unterstützung von zivilgesellschaftlichen Friedensinitiativen, gemeinsamen Projekten und Dialog in Israel und Palästina.
4. Spoilern effizient und konsequent entgegentreten
Hardliner oder Akteure, die Friedensprozesse unterminieren („Spoiler“), müssen politisch, diplomatisch und gegebenenfalls mit Sanktionen unter Druck gesetzt werden — auf beiden Seiten des Konflikts. Zudem soll die Einstufung der „Boycott, Divestment and Sanctions“ (BDS)-Kampagne als „gesichert extremistisch“ durch das Bundesamt für Verfassungsschutz aufgehoben werden.
5. Die Vereinten Nationen schützen und Multilateralismus stärken
Deutschland soll sich für ein starkes multilaterales System einsetzen, UN-Institutionen stützen, UN-Personal schützen und insbesondere die Rolle von UNRWA ausbauen.
6. Die Relevanz der EU stärken
Die EU-Außen- und Sicherheitspolitik muss effizienter und handlungsfähiger werden — z. B. durch Einführung des qualifizierten Mehrheitsprinzips (QMV) in der GASP und gemeinsame europäische Positionen statt einzelstaatlicher Politik.
7. Verzerrte Narrative korrigieren und einen faktenbasierten Diskurs fördern
Der öffentliche Diskurs muss ausgeglichen sein, Desinformation bekämpft und Berichterstattung kritisch und unabhängig unterstützt werden. Dabei muss auch der Schutz von Journalisten und medizinischem Personal im Vordergrund stehen.
8. Umfassende historische Verantwortung übernehmen
Deutschland soll seine historische Verantwortung nicht selektiv wahrnehmen, sondern konsequent für universelle Menschenrechte eintreten und auch Aufgaben zur Versöhnung, Entschädigung oder Anerkennung sekundärer Verantwortung erwägen. „Wiedergutmachung darf kein Vertrag zu Lasten Dritter sein“.
9. Konfliktgetriebene Polarisierung ganzheitlich angehen
Antisemitismus und antimuslimischer Rassismus dürfen nicht isoliert bekämpft werden. Man muss den Konflikt als zentrale Ursache verstehen und Strategien entwickeln, die Vorurteile, Entmenschlichung und Hass auf allen Seiten thematisieren. Die IHRA-Definition von Antisemitismus, die der Bundestag angenommen hat, wird kritisiert, da sie scharfe Kritik, die Teil der Meinungsäußerung ist und die Verwendung des Begriffs „Völkermord“ mit rassistischer Hassrede vermischt.
10. Eine Kultur gemeinsamer humanistischer Werte fördern
Förderung von Menschenwürde, Grundrechten und Verfassungskultur — sowohl in der Politik als auch in Bildung und Zivilgesellschaft. Einschränkungen von Meinungs- oder Pressefreiheit im Namen der Antisemitismusbekämpfung werden kritisch gesehen.
Das Papier übt scharfe Kritik an der Rolle und dem Handeln der Bundesregierung in Nahost, macht deutlich, dass der Konflikt nicht erst mit dem 7. Oktober 2023 begonnen hat und prangert die Kriminalisierung von friedenspolitischen Aktivisten an, während es gleichzeitig die Förderung von Dialog und Begegnung einfordert.

