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Say verurteilt

 Kamil Tekin Sürek

 

Natürlich muss in einer “demokratischen Gesellschaft” jeglicher Glaube oder Nicht-Glaube respektiert werden. Und natürlich bedeutet dieser Respekt nicht, dass dadurch das Recht auf Kritik eingeschränkt oder die Verteidigung der eigenen Einstellung verboten wird. Eine Religion zu respektieren bedeutet, dass das Recht auf Glauben bzw. Nicht-Glauben respektiert wird.

Was bedeutet dieser Respekt? Niemand sollte behaupten, dass die Anhänger einer Religionsgemeinschaft allesamt Idioten oder Scharlatane sind. Genauso sollte niemand sagen, dass man von einem Aleviten nicht einmal ein Glas Wasser annehmen darf oder dass die Aleviten Inzest praktizieren würden, wie es sogar schon mal ein Minister behauptete. Man darf nicht alle Kurden oder PKK-Kämpfer als „Teufelsanbeter“ beschimpfen, wie es Ministerpräsident Erdogan des Öfteren macht. Niemand darf jemand anderen wegen seines Glaubens bzw. Nicht-Glaubens verurteilen.

Es sollte jedoch jedem freigestellt sein, den Glauben an sich zu kritisieren. Jeder darf sagen, dass Himmel und Hölle nicht existieren. Man kann unter soziologischen Aspekten hinterfragen, warum der Gott in monotheistischen Religionen wie ein König oder Vater dargestellt wird. Das ist mit einer Beleidigung bzw. Verleumdung einer Religion nämlich nicht gleichzusetzen.

Die größte Beleidigung bzw. Verleumdung einer Religion kommt eigentlich von rückständigen Religionsverfechtern, wie es Fazil Say einmal zutreffend beschrieb. Wenn man beispielsweise die Schriften des früheren Mufti Ali Riza Demircan über Sexualität und Paradies verbreiten würde, würden die meisten der Religion abschwören. Der Staatsanwalt und die Richter, die Fazil Say verurteilt haben, haben diese Schriften von Demircan wohl nie gelesen.

Keiner der „Tweets“, die bei der Verurteilung von dem Pianisten Say als Beweis angeführt wurden, beinhaltet eine Beleidigung bzw. Verleumdung. Der Strafrechtsartikel, auf dem seine Verurteilung beruht, lautet wie folgt: „Türkisches Strafgesetzbuch, § 216/3: Eine Person, die die von einem Teil der Bevölkerung verinnerlichten religiösen Werte offen erniedrigt, wird zu einer Freiheitsstrafe von sechs bis 12 Monaten verurteilt, sofern diese Handlung geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören.“ Einer der genannten Tweets beinhaltete die Auseinandersetzung mit einem Muezzin. Insofern geht sie lediglich einen Muezzin etwas an. In einem anderen Tweet kritisierte er die Betrüger, die sich als „Gottesdiener“ ausgeben. Auch hier kann nicht die Rede von der Beleidigung der Religion sein, sondern von Betrügern. In einem anderen Tweet gab Say einen Vierzeiler wieder, über dessen Verfasser eine heftige Debatte entstand. Viele bestreiten, dass dieser Vierzeiler von Omar Khayyam verfasst wurde. Er ist lediglich die Kritik an einer bestimmten Vorstellung von Himmel, wie sie auch Yunus Emre ausübte. Auch hier kann nicht die Rede von Blasphemie sein.

Wenn man, wie die Mitglieder der heutigen Regierungspartei bzw. der Justiz, der Ansicht ist, dass der eigene Glaube der einzig Wahre ist und versucht, alle anderen davon zu überzeugen, dann kann man keine Diskussion über die „Meinungsfreiheit in einer demokratischen Gesellschaft“ führen. In diesem Fall würde jede Kritik an diesen vermeintlich einzig wahren Glauben als Beleidigung und Verleumdung aufgefasst werden. Dann würde jede Handlung als ein blasphemischer Aufstand gegen den Gott wahrgenommen.

Das Urteil gegen Fazil Say bedarf keiner Auseinandersetzung im rechtlichen Rahmen. Auch technisch ist es ein Verstoß gegen geltendes Recht. Sollte er vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ziehen, dürfte dieses Urteil keinen Bestand haben. Es ist ein Sachverhalt, der in erster Linie unter politischen Gesichtspunkten hinterfragt werden muss. Wie Fazil Say zutreffender Weise zusammenfasste, ist ein Regime, in dem man die Inhalte seiner Tweets nicht ungestraft verbreiten darf, kein demokratisches oder laizistisches Regime.

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