Dieser Satz stammt nicht aus einem Song von Haftbefehl, sondern vom Berliner Rapper Takt32, jedoch erklärt es die Haftbefehl Dokumentation „Babo“ und die Reaktionen darauf sehr treffend. Doch wer bei dieser Rezension Mitleid für Haftbefehl alias Aykut Anhan erwartet, wird wahrscheinlich enttäuscht. Denn auch er ist Teil dieser Inszenierung, in der wieder versucht wird, jede Träne auszupressen und den Schmerz zu vermarkten.
Doğuş Birdal
Aber zurück zum Anfang. Wir sehen Hafti, sein Gesicht vom Kokainmissbrauch kaum wiederzuerkennen, mit der Intention, „seine Geschichte richtig zu erzählen“. Doch bis zuletzt bleibt diese „richtige“ Erzählung auf der individuellen Ebene stecken. Zwar sehen wir kurz eine Szene, in der die Bedingungen für Jugendliche in Städten wie Offenbach und FFM angesprochen werden – Armut, Drogensucht und -handel – doch woher diese Probleme kommen, bleibt unausgesprochen. Dass es fast unmöglich ist, da unbeschadet rauszukommen und der einzige Unterschied zwischen einem selbst und einem Nachbar, der im Knast gelandet oder in die Drogensucht abgerutscht ist, meist nicht mehr als eine Aneinanderreihung von Zufällen ist, die manche „Glück“ nennen, und das es noch tausende Aykuts da draußen gibt, die „nur“ in die Drogensucht abgerutscht sind und es nicht außerdem noch zum Rapper und Multimillionär gebracht, „es geschafft“ haben, davon fehlt jede Spur. Dass auch heute immer mehr Jugendliche Drogen nehmen und wie ihre Lebensrealitäten aussehen, wird nicht beleuchtet. Ganz zu schweigen von dem Mangel an Sozialarbeitern und der katastrophale und praktisch nicht bestehende Zugang zu psychologischer Hilfe, während wieder Milliarden in Krieg und Rüstung ausgegeben werden.
„Aber darum geht es doch nicht in der Doku, sondern um Hafti“, wird der eine oder andere jetzt sagen. Aber darum geht es in seiner Musik und in seiner Kunst. Wie man von den Lehrern oder der Mehrheit der Gesellschaft betrachtet wird, wenn man Ali oder Aykut heißt. Wie man in seinem eigenen Stadtteil von der Polizei schikaniert wird, die Nacht nackt auf einer Polizeiwache verbringt und als Jugendlicher schon in eine Täterrolle gedrängt wird. Wie der einzige Ausweg meist der Drogenhandel oder die Sucht ist. Genau das ist es, was mich und viele Jungs vor 15 Jahren dazu gebracht hat, das erste (und wahrscheinlich das letzte) Mal in unserem Leben ein Album zu kaufen, um einen von uns zu unterstützen. Genau das ist es, was Haftbefehl zu dem gemacht hat, was er heute ist.
Doch in der Doku geht es nicht um die Kunst und was hinter ihr steht, auch wenn es ein paar Mal angedeutet wird. Es geht um die Person, ihren Absturz und die dramatische Inszenierung dessen, bei der alle Beteiligten – auch Haftbefehl selbst – mitwirken. Seine Musik, für die wir vor 15 Jahren ausgelacht wurden, ist schon längst im Mainstream angekommen und wer einmal vor einem Haftbefehl Konzert stand und sich das Publikum angeschaut hat, könnte wahrscheinlich nicht sagen, ob gleich ein Haftbefehl oder ein Helene Fischer Konzert stattfindet. Denn die Jungs, um die es in der Musik geht, können oder wollen sich diese Konzerte schon lange nicht mehr leisten.
Die Musikindustrie – die Blutsauger
Auch die Ausschlachtung durch die Musikindustrie, von der es auch Vertreter in die Doku schaffen, um sich selbst zu inszenieren, wird kurz von Xatar angeschnitten, doch sofort wieder fallengelassen. Wir sehen einen Mann, der es nicht mehr schafft eigenständig rationale Entscheidungen zu treffen und vom eigenen Bruder durch einen „Trick“ in die Geschlossene eingewiesen werden muss und wie er durch eine ganze Kulturindustrie ausgesaugt wird. Einen Booker, der auf Biegen und Brechen seine Geburtstags-Show durchziehen will, obwohl jeder wusste, wie’s gesundheitlich um ihn steht. Ein System, dem seine Gesundheit egal war, solange das Geld floss. Blutsauger trifft es sehr gut, weil wir auch zu sehen bekommen, wie sein Körper zugrunde geht und er keinen Auftritt mehr ohne Nasenbluten durchhält. Und wer zwischen den Zeilen lesen kann, versteht auch, dass sein Umfeld dasselbe tat: „Wenn ich gucke, dass es allen gut geht, […] geh ich in mein Loch […], komm wieder raus, wieder gucken, dass es allen gut geht, Gucci hier Gucci da, Mercedes hier Mercedes da und dann wieder Loch“.
Entschuldigt Trauma alles?
Ein zentrales Thema, welches weiter zur Individualisierung beiträgt, ist das Verhältnis zum abwesenden autoritären Vater. Es reicht nicht, dass wir die dramatischen Szenen, wie Aykut versucht den Suizidversuch seines Vaters zu verhindern und der tatsächliche Suizid am Ende, zu hören bekommen, nein sie werden dramatisch inszeniert und nachgestellt. Diese traumatischen Erfahrungen werden als größter Grund dafür dargestellt, dass ein 13-Jähriger mit Kokain anfängt. Alle anderen Faktoren, wie die gesellschaftlichen, werden kleingeredet. So auch die eigene Verantwortung, die er als Vater jetzt selbst trägt. Auch das passt sehr gut in unsere Zeit. Jede Handlung wird irgendwie gerechtfertigt. Das fängt klein an, z.B. mit Sternzeichen, die uns diese oder jene Eigenschaft halt gegeben haben, für die wir nichts können, bis hin zu Traumata als letzter Versuch, sich der eigenen Verantwortung zu entziehen. Das heißt keineswegs, dass ich Traumata kleinreden will, jedoch entmündigen sie uns nicht, dazwischen liegt ein großer Unterschied. Vor allem bei Männern wird das noch häufiger gemacht, denn wenn wir ein kleines Gedankenexperiment machen und uns Hafti als Frau und Mutter vorstellen, würden ihr wahrscheinlich mehr Menschen vorwerfen, wie verantwortungslos sie ihren Kindern gegenüber ist, was für eine schlechte Mutter sie sei und viel weniger Stimmen würden „armer Aykut“, oder in diesem Fall „arme Ayşe“ sagen.
Wird Haftbefehl der Junkie oder der Musiker bleiben?
Diese Frage stellt sich Haftbefehl selbst am Ende der Doku. Die Antwort: Egal was am Ende bleibt, wir werden live dabei sein, entweder seinen Flug bewundern, oder uns in seinen Absturz verlieben. Wenn Hafti wirklich aufgehört hätte, Musik zu machen, dann könnte man diese Doku vielleicht als Versuch erklären, „seine Geschichte richtig zu erzählen“. Aber wenn wir die Doku im Gesamtkontext begreifen, also die Streamingzahlen, die wieder durch die Decke gehen, der „World Club Dome“, der kurz nach der erfolgreichsten Netflix-Doku dieses Jahres Haftbefehls Comeback ankündigt und wir uns sicher sein können, dass ein so kranker Mensch in einer so kurzen Zeit nicht heilen kann, dann bleibt auf jeden Fall ein sehr bitterer Nachgeschmack und die ganze Inszenierung am Ende, ein Promo-Move, bei dem die Blutsauger profitieren und auch Hafti selbst mitmacht. Persönlich hoffe ich, dass er die Kurve kriegt und es vielleicht irgendwann schafft ein Vorbild zu werden, für die Jungs, die Aykuts sind, aber niemals zu Haftbefehl werden. Nur wird davon sicherlich keine Doku gedreht.

