Eren Gültekin
In der Türkei spitzt sich die politische Lage immer weiter zu. Im Zentrum steht die Cumhuriyet Halk Partisi (CHP), die größte Oppositionspartei. In Deutschland oft als fortschrittliche Alternative wahrgenommen, verfolgt die republikanische CHP in ihrer Politik eine nationalistische Agenda, die sich in der Herabsetzung und Diskriminierung von Minderheiten, etwa Geflüchteten, widerspiegelt. Als größte Oppositionspartei ist sie dennoch für viele Menschen eine Alternative zur Ein-Mann-Herrschaft Erdoğans und für den Rest der Opposition bis zu einem Punkt ein Partner im Widerstand gegen die AKP. Nach den Kommunalwahlen 2024 erzielte die CHP landesweit historische Erfolge, gewann zahlreiche Großstädte, darunter Istanbul und Ankara, und wurde damit nach über 20 Jahren wieder zur stärksten Kraft der Opposition. Dies bedroht die Machtposition der regierenden AKP unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan, die bei zukünftigen Wahlen zunehmend unter Druck steht.
Das „Kayyum“-Instrument der AKP
Um ihre Herrschaft zu sichern, greift die Regierung auf mehrere Instrumente zurück. Ein zentrales Mittel ist die Einsetzung von sogenannten Zwangsverwaltung (türkisch: kayyum), also von Gerichten eingesetzten Verwaltern, die gewählte Amtsträger ersetzen. Seit dem Putschversuch von 2016 wurde diese Praxis institutionalisiert: Offiziell diente sie zunächst dazu, Mitglieder der Gülen-Bewegung aus Ämtern zu entfernen, gleichzeitig nutzte die Regierung die Gelegenheit, gezielt gegen die oppositionelle HDP unter der Führung des Politikers Selahattin Demirtaş vorzugehen, die weit über die kurdischen Gebiete hinaus Anerkennung gewonnen hatte. So wurden allein 2016 95 HDP-Bürgermeister durch das Innenministerium abgesetzt und durch staatliche Verwalter ersetzt. Inzwischen wird diese Methode auch gegen andere oppositionelle Kräfte wie die CHP eingesetzt.
Zuletzt traf dies den Istanbuler Stadtverband der CHP. Ein Gericht setzte den Ortsvorsitzenden Özgür Çelik und den gesamten Vorstand ab und ernannte stattdessen fünf Treuhänder, darunter Gürsel Tekin, der zuvor selbst aus der CHP austreten wollte. Die Angriffe auf die CHP laufen bereits seit Anfang 2025 und wurden eingeleitet durch die Verhaftung des populären Istanbuler Oberbürgermeisters Ekrem İmamoğlu. In der Folge wurden insgesamt 16 weitere CHP-Bürgermeister verhaftet oder abgesetzt. Offiziell werden Korruption und Amtsmissbrauch als Gründe angegeben, jedoch ist deutlich zu erkennen, dass es sich um einen gezielten Versuch handelt, die Opposition zu schwächen und zunehmend zu kontrollieren.
Parteiinternes Tauziehen stärkt die Regierung
Parallel läuft eine juristische Auseinandersetzung um die CHP-Parteitage von 2023 und 2025. Unzufriedene Parteimitglieder hatten wegen angeblicher Unregelmäßigkeiten bei der Stimmenabgabe Klage eingereicht. Die Gerichte prüfen, ob die Parteitage annulliert werden müssen – ein Szenario, das die gesamte Parteiführung delegitimieren und die Einsetzung weiterer Treuhänder erleichtern könnte. Schon seit Monaten kursieren in Parteikreisen Spekulationen, dass der ehemalige CHP Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu nach einem möglichen Gerichtsurteil, das die Parteitage für ungültig erklären würde, wieder die Führung der CHP übernehmen und Disziplinarmaßnahmen gegen bestimmte Parteimitglieder ergreifen könnte. Diese Diskussionen werden regelmäßig in politischen Talkshows aufgegriffen. Ende August deutete auch die regierungsnahe Zeitung Daily Sabah Kılıçdaroğlus Äußerungen so, dass er indirekt signalisiert habe, im Falle einer entsprechenden Situation wieder Verantwortung zu übernehmen.
Der ehemalige Abgeordnete und frühere Generalsekretär Gürsel Tekin, der vom Gericht als Treuhänder für den CHP-Istanbul-Verband eingesetzt wurde, hatte am 13. Februar des Vorjahres über seinen Social-Media-Kanal seinen Austritt aus der Partei angekündigt – dieser wurde jedoch nie formal vollzogen. Infolgedessen wurde er am 2. September 2025 offiziell aus der CHP ausgeschlossen. Bei seiner Amtseinführung wurde Tekin von einem massiven Polizeiaufgebot begleitet und gewaltsam in die Büros des Istanbuler Stadtverbandes gebracht. Vor dem Gebäude hatten sich Tausende CHP-Anhängerinnen und Anhänger versammelt, um gegen die Treuhänderpolitik zu protestieren. Tekin wurde von der Menge mit wütenden Buhrufen empfangen, während die Polizei mit Knüppeln und Tränengas den Weg ins Gebäude frei machte und zahlreiche Demonstrierende festnahm. Auch fortschrittliche Parteien wie die Partei der Arbeit (EMEP) und die DEM-Partei entsandten Delegationen, um ihre Solidarität mit der CHP zu zeigen.
Die Szene verdeutlicht die Absurdität der Situation: Ein ehemaliger Politiker, der jahrelang zentrale Rollen innerhalb der Partei innehatte und für sie gekämpft hat, führt nun öffentlich einen Machtkampf – unter den Mitteln und der direkten Kontrolle der Regierung. Dies zeigt deutlich, wie die AKP innerparteiliche Konflikte in der Opposition zu ihren Gunsten ausnutzen kann: Der Feind meiner Feinde wird zum Freund – in diesem Fall die Kılıçdaroğlu-Fraktion gegen die Özel-Fraktion.
Linke Kräfte vereint gegen die Zwangsverwaltung Politik
Mehrere oppositionelle Parteien – darunter EMEP, DEM Partei DBP, ESP, TİP und weitere – veröffentlichten eine gemeinsame Erklärung als Reaktion auf die Absetzung des CHP-Istanbul-Vorstands und die Ernennung von Treuhändern. Sie verurteilen die AKP-Regierung scharf: Diese greife gezielt die gesamte Opposition an, untergrabe demokratische Rechte, treibe Konflikte innerhalb der Parteien voran und nutze die Justiz, um Kontrolle auszuüben.
Die Parteien kritisieren auch die gescheiterten Friedens- und Demokratisierungsversuche der Regierung im Zusammenhang mit der kurdischen Frage, sowie deren regionale Aggressionen und strategische Allianzen in Syrien. Sie sehen die Maßnahmen als Teil einer autoritären Politik, die demokratische Institutionen schwächen, die Opposition spalten und die Gesellschaft unter Kontrolle bringen soll.
Straßenproteste als stärkstes Mittel des Widerstands
CHP-Generalsekretär Özgür Özel agiert zwar diszipliniert innerhalb der Partei, doch die Proteste auf der Straße zeigen, dass die Bevölkerung zunehmend autonom aktiv wird – vor allem aufgrund der anhaltenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme. Diese Proteste, wie etwa in Saraçhane und anderen Stadtteilen Istanbuls, stellen den wirksamsten Widerstand gegen die Angriffe auf die Opposition dar. Die AKP nutzt dabei die institutionellen Dynamiken des Staates – wie sie zuvor gezielt gegen die kurdische politische Bewegung angewandt wurden – um die Opposition, insbesondere die CHP, systematisch zu schwächen. Gleichzeitig zeigt die Mobilisierung der Bevölkerung, dass politische Kontrolle allein durch juristische Eingriffe oder Repressionen nicht aufrechterhalten werden kann.

