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64 Jahre Migration in der Bundesrepublik – zwischen Bedarf und Entmenschlichung

Die Geschichte der Migration in der Bundesrepublik Deutschland lässt sich nicht losgelöst von ökonomischen Interessen, gesellschaftlichen Hoffnungen und politischer Instrumentalisierung erzählen. Seit den ersten Anwerbeabkommen der 1950er und 1960er Jahre war Migration stets zweifach eingesetzt: einerseits als nötige Ressource für Wirtschaft und Gesellschaft, andererseits als möglicher „Sündenbock“ für soziale und staatliche Fehlentwicklungen.

Dilan Baran

Anwerbeabkommen und „Teilzeit-Einwanderung

In den Nachkriegsjahrzehnten fehlten in Westdeutschland – angesichts des raschen Wirtschaftswachstums – Arbeitskräfte. So wurden Arbeitskräfte aus dem Ausland gezielt angeworben. Zum Beispiel unterzeichneten die Bundesrepublik Deutschland und die Türkei am 30. Oktober 1961 ein Anwerbeabkommen. Die Idee war: „Gastarbeiter“ würden nur befristet bleiben, nach einiger Zeit wieder zurückkehren eine Art Teilzeit-Einwanderung.

Der wirtschaftliche Nutzen war klar: günstige Arbeitskräfte, günstigere Löhne, weniger Sozialkosten. Die gesellschaftliche Eingliederung aber war nicht vorgesehen; das Konzept war rein ökonomisch orientiert.

Anders als oft in der Wahrnehmung erhalten, waren unter diesen Beschäftigten auch Frauen. Zwischen 1960 und 1973 stieg etwa die Zahl der ausländischen Arbeiterinnen in der Bundesrepublik von etwa 43.000 auf über 706.000, ihr Anteil an der Gesamtzahl der ausländischen Arbeiter verdoppelte sich von 15 % auf über 30 %. Diese Frauen wurden gezielt in Leichtlohngruppen eingestellt, in Branchen wie Textil, Bekleidung, Genussmittelindustrie, oft unter Bedingungen, die weit entfernt waren von Gleichberechtigung und Anerkennung.

Von der Gastarbeiter- zur Einwanderungsgesellschaft

Nachdem ab den frühen 1970er Jahren der Rückkehrgedanke kaum mehr realisiert wurde, änderte sich die Lage: Viele ehemalige „Gastarbeiter“ blieben, holten ihre Familien nach oder gründeten neue Familien. Aus der Idee eines befristeten Arbeitsaufenthalts wurde eine längerfristige Präsenz und damit eine Einwanderungsgesellschaft.

Parallel dazu verschob sich die Debatte: Es ging nicht mehr nur um Wirtschaftskraft, sondern zunehmend auch um Fragen von Integration, Teilhabe, Diskriminierung und Anerkennung. Ein Beispiel: Der wilde Streik bei Pierburg 1973 in Neuss – geführt von migrantischen Frauen – gilt als Meilenstein im Kampf um „gleiche Arbeit, gleicher Lohn”, der Ford-Streik als Beispiel des Zusammenhalts in der Belegschaft – unabhängig von Herkunft.

Gleichzeitig blieb die Realität bis heute geprägt von Hierarchien: Migrantinnen und Migranten arbeiten überproportional häufig im Niedriglohnsektor, in prekären Arbeitsverhältnissen. Studien zeigen: 45 % der Beschäftigten mit Migrationshintergrund außer-europäischer Herkunft arbeiten in Helfer- und Anlerntätigkeiten (2021) – im Vergleich zu 18 % bei Menschen ohne Migrationshintergrund. Auch befristete Arbeitsverträge und Leiharbeit sind überdurchschnittlich verbreitet. Das zeigt: Auch wenn die Einwanderungsrealität mit jedem Jahr länger anhält, bedeutet sie nicht automatisch bessere Teilhabe oder Chancengleichheit.

Nutzen- und Bedarf versus Schuldzuweisung

In der deutschen Debatte über Migration zeigt sich eine wiederkehrende Ambivalenz: Auf der einen Seite steht: Migration wird gebraucht – etwa wegen sinkender Geburtenraten, des Fachkräftebedarfs, des Arbeitskräftemangels in Pflege, Handwerk und Technologie. In jüngster Zeit wird dies politisch wieder offen eingeräumt: Einwanderung von Fachkräften soll erleichtert werden.

Auf der anderen Seite wird Migration häufig als ursächlich für soziale und staatliche Probleme präsentiert – als Belastung der Sozialkassen, als Ursache für Wohnungs- und Kita-Engpässe, als Wettbewerb um knappe Ressourcen.

Doch diese Schuldzuweisung hält bei näherer Prüfung nicht stand, im Gegenteil: So berichtet eine aktuelle Studie von Martin Werding, dass eine jährliche Netto-Zuwanderung von 200.000 Personen Deutschland um rund 104 Mrd. Euro entlasten könnte – konkret etwa 7.100 Euro pro Person pro Jahr. Anders gesagt: Migration entlastet in dieser Rechnung die öffentlichen Haushalte, statt sie zu belasten.

Gleichzeitig wird Migration politisch genutzt, um strukturelle Probleme zu verschleiern: Investitionsstau in Schulen, fehlende Kita-Plätze, Überlastung der Pflege, knapper Wohnraum, soziale Ungleichheit.

So entsteht eine paradoxe Situation: Migration wird als notwendige Leistung für Wirtschaft und Staat gebraucht, gleichzeitig aber in politischen und medialen Debatten oft als Teil des Problems dargestellt.

In Wahlkämpfen wird Migration häufig zentrales Thema, während die oben benannten Probleme vergleichsweise wenig diskutiert werden.

Wer gehört zum Stadtbild?

Nach Jahrzehnten der Migration in Deutschland ist jedem Menschen mit Verstand klar: Die Geschichte von Arbeitsmigration ist längst zur Geschichte dieser Gesellschaft geworden. Menschen mit Migrationsgeschichte haben nicht nur am Fließband gestanden, sie haben Städte aufgebaut, Pflegeheime am Laufen gehalten, in Werkhallen, Küchen, Laboren und Schulen gearbeitet – sie sind Teil des sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Fundaments dieses Landes.

Wenn heute von „dem Stadtbild“ gesprochen wird, dann darf niemand übersehen, dass dieses Land längst mehr ist als sein altes Selbstbild. Menschen mit Migrationsgeschichte sind Ärztinnen, Busfahrer, Lehrerinnen, Pflegekräfte, Studierende, Handwerker – sie sind Nachbarinnen, Freunde, Kolleginnen. Sie sind nicht fremd im Stadtbild – sie sind das Stadtbild.

Doch während Millionen Menschen mit Migrationsgeschichte auf diese Weise jeden Tag das Funktionieren dieser Gesellschaft sichern, versuchen der Bundeskanzler, seine und andere Parteien, sie erneut zum Problem zu erklären. Wenn Friedrich Merz behauptet, Migrantinnen und Migranten seien ein Problem im Stadtbild und man müsse „mehr abschieben“, dann tut er das nicht zufällig. Mit solcher Rhetorik lenkt er ab – von den sozialen und politischen Folgen seines angekündigten „Herbsts der Reformen“: von weiteren Kürzungen im Sozialbereich, von Privatisierungen, vom Rückzug des Staates aus zentralen Daseinsaufgaben.

Was es endlich abzuschieben gilt, ist die Frage ob Migration „nützlich“ ist, hin zur Anerkennung, dass sie konstitutiv für die moderne Bundesrepublik ist. Wer also heute Integration fordert, sollte auch Gerechtigkeit fordern – in Arbeit, Bildung, Wohnen und politischer Teilhabe.

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