„Friede den Hütten, Krieg den Palästen!“: Büchners Aufruf aus dem „Hessischen Landboten“ liest man auch heute, fast zweihundert Jahr später, immer wieder.
War Büchner ein typischer Intellektueller, linksorientiert und obendrein arrogant? Oder entsprach er eher dem pseudoromantischen Klischee des in Armut, Krankheit, Einsamkeit und seelischer Zerrüttung schaffenden Genies? Mancher Zeitgenosse sieht in ihm tatsächlich den hochmütigen, vielleicht sogar zynischen Beobachter des Geschehens um sich herum und Büchner ist sich dessen durchaus bewusst: „Man nennt mich einen Spötter“, schreibt er im Februar 1834 an seine Familie, erklärte aber auch: „Ich verachte Niemanden.“ Der Vorwurf des Hochmuts, „weil ich an ihren Vergnügungen oder Beschäftigungen keinen Geschmack finde“, erscheint ihm ungerecht; über seine Neigung zum Spott erklärt er: „Es ist wahr, ich lache oft, aber ich lache nicht darüber, wie Jemand ein Mensch, sondern nur darüber, dass er ein Mensch ist, wofür er ohnehin nichts kann, und lache dabei über mich selbst, der ich sein Schicksal teile.“
Also doch das einsame Genie in der Dachkammer? In Büchners Lebenslauf spricht einiges dagegen: In Goddelau, einem Dorf im damaligen Großherzogtum Hessen, wenige Kilometer von Darmstadt, wird Georg Büchner als ältester Sohn von Caroline und Dr. Ernst Büchner, am 17. Oktober 1813 geboren.
Nachdem er seinen ersten Unterricht von der Mutter erhalten hat, besucht Büchner ab 1825 das humanistische Gymnasium in Darmstadt. Die Schriften des Schülers zeigen, abgesehen von einer offensichtlichen rhetorischen Begabung, ein scharf entwickeltes politisches Bewusstsein, das ihn auch im täglichen Leben (‚Polen-Rock‘ und ‚Jakobiner-Mütze‘) seine republikanische Haltung zeigen lässt. Viele seiner Schulkameraden teilen Büchners Gesinnung und sind, anders als er, Mitglieder konspirativer oder zumindest oppositioneller Kreise. Aus Überzeugung, dass die Zeit für revolutionäre Handlungen noch nicht reif sei, hält er sich davon noch fern.
Im November 1831 verlässt Büchner das politisch bedrückende Darmstadt, um an der Universität in Straßburg ein Medizin-Studium aufzunehmen. Er kommt bei Pfarrer Johann Jakob Jaeglé unter, mit dessen Tochter Luise („Minna“) Wilhelmine (1810 – 1880) Büchner sich im Juli 1833 heimlich verlobte.
In Straßburg wird Büchners Auseinandersetzung mit politischen und sozialen Fragen noch intensiver. Durch Lektüre und Diskussionen in seinem dortigen Freundeskreis, zu dem vor allem August und Adolph Stoeber gehören, schärft sich Büchners Blick für die Tatsache, dass die Wurzeln des Übels nicht nur in der Vorenthaltung bürgerlicher Rechte, sondern in erster Linie in der materiellen Unterdrückung des Volkes liegen. Er kann dies besonders gut an den Folgen der französischen Juli-Revolution von 1830 beobachten, aus der sich zielstrebig eine Diktatur des Großbürgertums entwickelt. Zu den französischen Linksrepublikanern knüpft er Kontakte, lernt ihre Organisationsform kennen und befasst sich mit den politischen Theorien der sogenannten utopischen Sozialisten Saint-Simon, Babeuf und Fourier.
Doch noch ist seine Devise, dass revolutionäre Umtriebe in Deutschland nicht erfolgreich wären: Im Mai 1832 versammeln sich Studenten und Oppositionelle in Hambach und fordern Pressefreiheit, Volkssouveränität und ein geeintes Deutschland. In Hanau haben Bauern das Zollamt gestürmt, um gegen zu hohe Steuern zu protestieren; in Frankfurt kommt es im Oktober 1832 zu einem revolutionären Putschversuch. Seine Entschuldigung über die Nichtbeteiligung: ,“weil ich im gegenwärtigen Zeitpunkt jede revolutionäre Bewegung als eine vergebliche Unternehmung betrachte und nicht die Verblendung derer teile, welche in den Deutschen ein zum Kampf für sein Recht bereites Volk sehen. Diese tolle Meinung führte die Frankfurter Vorfälle herbei, und der Irrtum büßte sich schwer.“
Im August 1833 kehrt Büchner nach Darmstadt zurück, um sein Studium in Gießen abzuschließen. Es ist ein Ortswechsel mit gewaltiger Wirkung: In vollem Bewusstsein erlebt er nun die Beengtheit, die das politische System in Deutschland hervorruft: „Die politischen Verhältnisse könnten mich rasend machen“. Zum einen beginnt eine intensive Beschäftigung mit der Geschichte der Französischen Revolution, zum anderen gründet er in Gießen mit einigen Gesinnungsgenossen, u. a. Karl Minnigerode, eine ‚Gesellschaft der Menschenrechte‘, die er bald um eine Darmstädter Sektion erweitert. Er lernt auch Ludwig Weidig kennen, einen republikanischen Aktivisten, mit dem er beschließt, ein Flugblatt zu verfassen und in Umlauf zu bringen. Es ist „Der Hessische Landbote“, in dem Büchner seinen sozialrevolutionären Ansatz („Friede den Hütten, Krieg den Palästen“) in aller Schärfe formuliert. Im Juli bringt Büchner das Manuskript zu einem Drucker nach Offenbach; dort werden die fertigen Exemplare am 31. Juli von drei Mitgliedern der ‚Gesellschaft der Menschenrechte‘ abgeholt. Einen Tag später kommt es durch eine Denunziation zur Verhaftung Minnigerodes, bei dem 139 Exemplare des Landboten gefunden werden. Sofort reagiert Büchner und macht sich unter einem Vorwand auf nach Butzbach, Offenbach und Frankfurt, um die dortigen Freunde zu warnen.
Nicht nur die Französische Revolution ist Gegenstand seiner Studien, sondern nun auch die Geschichte der Philosophie. So beginnt Büchner mit der Niederschrift seines ersten Dramas, Dantons Tod, in welchem seine Quellenkenntnis zur Französische Revolution zum Tragen kommt. Aber die Ereignisse überschlagen sich. Nachdem die hessischen Behörden ihre Ermittlungen gegen revolutionäre Kreise in den vorangegangenen Monaten intensivieren, entschließt er sich endgültig zur Flucht. Er weiß genau, dass er den Verlust der persönlichen Freiheit psychisch nicht überstehen würde. Wie klug seine Entscheidung ist, zeigt sich bald darauf, als durch das Umkippen Clemms, eines der aktivsten Mitglieder der ‚Gesellschaft der Menschenrechte‘, eine große Verhaftungswelle folgt: Nach fast zwei Jahren Gefangenschaft mit ständigen Verhören und Folterungen stirbt der Mitverfasser des Hessischen Landboten.
Büchner erreicht Straßburg, wo er sich als der Weinkellner Jacques Lutzius anmeldet, um eine Abschiebung durch die dortigen Behörden zu vermeiden. Daraufhin erhält er die Sicherheitskarte, eine Art Aufenthaltsgenehmigung. Damit enden Büchners revolutionäre Aktivitäten, weil er sie sich aufgrund seines Flüchtlings-Status nicht erlauben kann; vielmehr hofft er darauf, dass sich seine Ideen immer mehr verbreiten und schließlich zu einem Zusammenfall des Systems führen würden.
Büchner wendet sich anderen Projekten zu. Hat er gehofft, als freier Schriftsteller seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können, so sieht er nun wohl ein, dass Politik und Publikumsgeschmack Unwägbarkeiten darstellen, die das Ergreifen eines ,Brotberufs‘ dringend nahelegen. Kurz entschlossen beginnt er 1835 mit der Arbeit an einer Dissertation über die Schädelnerven der Fische. Den ganzen Winter seziert er vornehmlich Flussbarben und schreibt darüber eine Abhandlung, die er im April 1836 beendet. Heutzutage ist das Mutieren eines Literaten zu einem Anatom wohl kaum nachvollziehbar; damals jedoch werden die Wissenschaftsbereiche nicht so scharf getrennt und so sieht Büchner die Chance, in Zürich die Doktorwürde und eine Dozentur zu erhalten und sucht sich „einen philosophischen oder naturhistorischen Gegenstand“. Geht die Beschäftigung mit der Anatomie übergangslos in philosophische Studien über und überlappt sich sogar mit diesen, so bleibt Büchner doch noch Zeit, seinen literarischen Projekten nachzugehen. 1836 arbeitet Büchner auch an `Leonce und Lena`, ein Prinzenpaar, die sich auf der Flucht von der Zwangsehe ineinander verliebt.
Irgendwann im Spätsommer muss er auch noch mit Skizzen für jenes Werk begonnen haben, das eines der bedeutendsten Dramen des Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum werden sollte: Woyzeck. Wieder dient historisches Material als Vorlage. Die wichtigste Quelle ist das Gutachten, das 1821 von Hofrat Prof. Dr. Johann Christian August Clarus zur Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit des Perückenmachergesellen Johann Christian Woyzeck verfasst worden ist, der seine Geliebte erstochen hat. Doch ist Woyzeck alles andere als ein Dokumentarstück. Vielleicht hat die Genauigkeit des Quellenstudiums es überhaupt erst erlaubt, die überindividuellen Aspekte des physischen, sozialen und seelischen Leids mit einer derart atemberaubenden Wucht und Schonungslosigkeit auf die Bühne zu bringen.
Die Revolution von 1848, die ersten Wahlen zu einer verfassunggebenden Nationalversammlung und ihr Scheitern erlebt Georg Büchner nicht mehr. Er erkrankte an Typhus und starb im Beisein Minnas mit 23 Jahren am 19. Februar 1837 in Zürich.
(Die aktuelle Ausstellung im Darmstadium zeigen sein Leben in verschiedenen Facetten auf.
Noch bis zum 16.02.2014)
Basak Yildirim