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Afghanistan: Wiederaufbau im Schatten des Krieges oder Kriegslogistik *

Sevim Dagdelen

Jeder Krieg benötigt und jeder Krieg beginnt mit der Dämonisierung des Feindes. Im Falle Afghanistans betraf diese Dämonisierung des Feindes v.a. die Taliban: Bärtige, schwer bewaffnete Männer, die jede Freude verbieten […] und jeden Verstoß mit drakonischen Strafen ahnden: Bis hin zur spontanen öffentlichen Hinrichtung. Teil dieser Dämonisierung ist auch, dass diese Menschen weder ein Gesicht noch einen Namen haben, dass ihnen jegliche Gefühlsregung und auch jede Rationalisierung abgesprochen wird. Ihr Handeln ist durch reine Bösartigkeit oder wahlweise: religiöse Verblendung bestimmt.
Diese Darstellung des Feindes steht in einem krassen Widerspruch zu dem Bild des Bundeswehreinsatzes, wie es uns mindestens bis 2006 vermittelt wurde. Dieses Bild erscheint mittlerweile grotesk, war es aber schon immer: Die Bundeswehr kommt in ein Dorf, schüttelt ein paar Hände, fragt, wo’s fehlt und baut dann wahlweise einen Brunnen oder eine Mädchenschule. Dieses Bild wurde von der NATO produziert und uns dann alltäglich in den Hauptnachrichten präsentiert. Mädchenschulen waren besonders beliebt, wurde doch die Zahl der gebauten Mädchenschulen der Öffentlichkeit quasi als Erfolgsbilanz präsentiert. Wo man früher das eroberte Gebiet mit einer Fahne markierte, wurde in den ersten Kriegsjahren eine Mädchenschule gebaut – ohne dass zuvor überhaupt eine gewaltsame Eroberung stattgefunden habe. […] Die öffentlich proklamierte Strategie, die „Herzen und Köpfe“ der Bevölkerung zu gewinnen, machte diese selbst zum Gegenstand der Auseinandersetzung. […] Ein Dorf, das dem Bau einer Mädchenschule zustimmte, galt als erobert und war und ist von Vergeltungsmaßnahmen durch die Taliban bedroht. Darin ist auch der Grund zu suchen, dass etwa die Alphabetisierung von Frauen in den ersten Jahren des Krieges effektiv abnahm: Selbst in Regionen und Kreisen, in denen Frauen der Schulbesuch grundsätzlich möglich war, nahmen immer mehr Familien davon Abstand, weil sie sich damit in Gefahr brachten, weil sie plötzlich als Speerspitze einer militärisch durchgesetzten gesellschaftlichen Zurichtung galten. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, wie verantwortungslos und gefährlich etwa Propagandaaktionen waren und sind, bei denen Bundeswehrsoldaten tausende Skateboards als Symbole westlicher Kultur nach Afghanistan flogen und dort an Jugendliche verteilten und Skate-Kurse absicherten, nur um ein paar schöne Bilder zu produzieren. […]
Was sind das für Unternehmen, die im Auftrag der Bundeswehr oder des Pentagon unter den Bedingungen von Krieg und Besatzung, Brunnen, Schulen, Brücken und Straßen bauen? Es sind Unternehmen, deren Kernkompetenzen nicht im Bauwesen und der Planung liegen, sondern im Bereich der Sicherheit und des Lobbying. Die einfachen Arbeiter werden weltweit dort zusammengesucht, wo die Lebensumstände so prekär sind, dass sie sich auf diese gefährliche und schlecht bezahlte Arbeit einlassen. Auf jeden dieser Arbeiter kommen mehrere Sicherheitskräfte, die den Bau, den Transport und die Unterkünfte absichern, sowie die Lobbyisten, die den Kontakt zu den Auftraggebern pflegen, um ein Vielfaches für den Bau zu verlangen, wie es die Qualität und auch die Sicherheitsumstände rechtfertigen. Diese Lobbyisten, die neue Schicht der Superreichen, stellen quasi die Schnittstelle zwischen Regierungen und organisierter Kriminalität dar, lassen sich wiederum eigene Siedlungen bauen, die wiederum schwer bewacht werden müssen.
Wem das nun zu pauschal wirkt – die Verbindung zwischen neuem Unternehmertum und organisierter Kriminalität und sonstigen dunklen Kanälen – der sei hier nur auf Schätzungen des Pentagon selbst verwiesen, die davon ausgehen, dass bis zu zwanzig Prozent des Auftragsvolumens an private Transportunternehmer als Bestechungsgelder an die Taliban fließen. Das ist durchaus realistisch, wenn man bedenkt, dass die Taliban in der Fläche und oft unerkannt wesentlich präsenter sind, als die NATO und wie einfach Anschläge auf LKW-Konvois sind. Transportunternehmer sind also auf gute Kontakte zu den Taliban und anderen Akteure angewiesen und das wissen ihre Auftraggeber auch. Vielen dieser Transportunternehmern wurde durch NATO-Kredite dennoch erst der Markteintritt ermöglicht, d.h. ihr Ausgangskapital waren diese guten Kontakte und erst die NATO hat es ihnen ermöglicht, ein Transportimperium aufzubauen, LKW anzuschaffen.
Krieg ist Logistik. Um die Preise nicht ins bodenlose steigen zu lassen und auch aus Angst vor Vergiftung, konsumieren die Soldaten der meisten NATO-Staaten ausschließlich importiertes Wasser, ähnliches gilt für fast alle anderen Lebensmittel. Wie umfassend die Logistik alleine für die 130.000 NATO-Soldaten – hinzu kommen all die eingebetteten „zivilen“ Kräfte – ist, davon haben unter anderem die Anschläge auf NATO-Konvois 2008 in Pakistan einen Eindruck vermittelt. Mehrfach wurden hier über hunderte von LKW auf einmal in Brand gesteckt und in die Luft gejagt. Anschließend wurde die Versorgung zunehmend auf die nördlichen Transitstrecken über Usbekistan und Tadschikistan und durch das Einsatzgebiet der Bundeswehrsoldaten um Kundus verlegt. Hierin ist auch die wichtigste Ursache für die anschließende Eskalataion in diesem deutschen Einsatzgebiet zu sehen: Es mehrten sich die Anschläge durch Taliban, ihre usbekischen Verbündeten und Geschäftemacher, dann wurde die Quick Reaction Force der Bundeswehr entsandt, später kamen noch zusätzliche Einsatzkräfte der US-Army hinzu. Die Zahl der getöteten und verletzten Bundeswehrsoldaten im Norden ist seit dem deutlich gestiegen, fast täglich ist die Bundeswehr in Gefechte verwickelt.
Gegenüber dem, was uns als Wiederaufbau verkauft wird – der Bau von Brunnen und Schulen – stellt diese Kriegslogistik und die Infrastruktur hierfür den Löwenanteil dessen dar, was als Wiederaufbau tatsächlich stattfindet. Letztlich handelt es sich um die Auslagerung militärischer Aufgaben an private Sicherheits- und Logistikdienstleister sowie privatisierte Pioniereinheiten. Wie umfassend diese privatisierte Kriegslogistik ist, lässt sich auch daran erkennen, dass das Center for Strategic and International Studies (CSIS) in enger Zusammenarbeit mit dem Pentagon eine Strategie zu entwickeln versuchte, um nahezu die gesamte zentralasiatische Region anhand der hier verlaufenden Kriegslogistik – der „modernen Seidenstraße“ – wirtschaftlich zu entwickeln: „Der Transit zahlreicher ziviler [sic] Transportfahrzeuge wird die Sicherheitslage verbessern [sic], da viele Menschen in den betroffenen Gebieten die damit verbundenen Chancen nutzen werden, um ihre Güter auf die Märkte zu bringen und ihre Dienste der Transportindustrie selbst anzubieten. Wenn Handel dieser Art zunimmt, werden die Menschen entlang den Hauptverkehrsrouten den freien Transit selbst als Schlüssel ihrer eigenen wirtschaftlichen Entwicklung erkennen.“
Wer allerdings tatsächlich – neben den Taliban und irgendwelchen bewaffneten Banden in Afghanistan – profitiert, hat sich auch in den Nachbarstaaten bereits deutlich herausgestellt. So sollen beispielsweise in Kirgisien die Unternehmen der Familie des mittlerweile gestürzten Diktators Bakiyev das große Geschäft gemacht und alleine 2009 Aufträge in Höhe von bis zu 80 Mio. US$ für das Pentagon übernommen haben. Um die für den Afghanistan-Einsatz essentiellen Nachschubbasen in Kirgisistan zu erhalten sind die USA – ebenso wie  Deutschland gegenüber Usbekistan – gezwungen, mit den Regimen gute Beziehungen zu pflegen – ganz unabhängig davon, wie deren Verhältnis zu Demokratie und Menschenrechten beschaffen ist.
Zusammenfassend kann man sagen, dass der Wiederaufbau dort, wo er aus propagandistischen Zwecken tatsächlich die zivile Bevölkerung betroffen hat, diese lediglich zum Schlachtfeld gemacht hat. Alles weitere und damit der Löwenanteil dessen, was unter Wiederaufbau verstanden wird, ist von der Kriegslogistik nicht zu unterscheiden – wie auch die Entwicklungszusammenarbeit im Kontext des Krieges nicht von der Kriegführung zu unterscheiden ist – und befördert die Entstehung megareicher und korrupter Eliten. Kein Wunder, ist die Bereicherung dieser Eliten weltweit doch der Zweck des Krieges selbst. Deshalb haben diese Eliten – von der Führung der Taliban über die Bau- und Rüstungsunternehmen bis hin zu den NATO-Strategen – gar kein Interesse an der Beendigung dieses Krieges und der anderen Kriege. Diese Kriege können wir nur von unten beenden. Das eröffnet auch die Perspektiven auf einen zivilen und selbstbestimmten Wiederaufbau.

 

* Der gekürzt abgedruckte Text ist aus einem Vortrag von MdB Sevim Dagdelen, den sie anlässlich „10 Jahre Krieg in Afghanistan“ im Vorfeld der Bonner Petersberg II-Konferenz in Berlin gehalten hat.

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