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Aus dem Kampf ler­nen

Ih­san Ça­ra­lan

Nachdem die Ober­ste Wah­lauf­sichtsbe­hör­de (YSK) Ve­to ge­gen die Kan­di­da­tu­ren von sie­ben vom „Block für Ar­beit, De­mo­kra­tie und Frei­heit“ un­ter­stützten unab­hän­gi­gen Kan­di­da­tin­nen und Kan­di­da­ten ein­ge­legt hat­te, gab es hef­ti­ge Reak­ti­o­nen in der Be­völ­ke­rung. Das Ve­to wur­de mit Straße­nak­ti­o­nen beant­wor­tet. Der so­mit ent­stan­de­ne Druck zwang die YSK und ih­re Hin­ter­män­ner zu ei­nem Rückzie­her. Die ver­bo­te­nen Kan­di­da­tu­ren von sechs Kan­di­da­tin­nen und Kan­di­da­ten mus­sten schließlich doch zu­ge­las­sen wer­den.
Nach An­sicht von YSK ist der „Block für Ar­beit, De­mo­kra­tie und Frei­heit“ ein Stör­fak­tor, der durch die 10-Pro­zent-Hür­de und die un­de­mo­kra­tis­chen Wahl- und Par­tei­en­ge­set­ze, die den etab­lier­ten Par­tei­en ei­ne Rei­he von Pri­vi­le­gien vor­be­hal­ten, nicht aus­ges­chal­tet wer­den kann. Desh­alb wur­de ver­sucht, die Kan­di­da­tu­ren der von ihm un­ter­stützten Kan­di­da­tin­nen und Kan­di­da­ten zu ver­hin­dern. Mit den star­ken Reak­ti­o­nen aus ei­nem doch sehr brei­ten Spekt­rum hat­te man wohl nicht ge­rechnet. Wenn man mal von der Erk­lä­rung der fas­chis­tis­chen MHP absieht, die die er­ste Entschei­dung der YSK we­gen an­geb­li­cher Form­feh­ler beim Ein­rei­chen der Wah­lun­ter­la­gen un­ter­stützte, gab es le­dig­lich we­ni­ge Stim­men aus den Krei­sen der Re­gie­rungspar­tei so­wie de­ren Un­ter­stüt­zern in den Me­dien, die die YSK-Entschei­dung nicht of­fen kri­ti­sier­ten. Nie­mand trau­te sich auf die bes­te­hen­de Rechtsla­ge zu ver­wei­sen, der sich der Block fü­gen müs­se. Die Po­wer der Straße­nak­ti­o­nen, die aus So­li­da­ri­tät mit den ver­bo­te­nen Kan­di­da­tin­nen und Kan­di­da­ten in­ner­halb kür­zes­ter Zeit das Land er­grif­fen, die vie­len Erk­lä­run­gen, dass un­ter die­sen Be­din­gun­gen die Wah­len ih­re Le­gi­ti­mi­tät ver­lie­ren wür­den, wa­ren die Grün­de, die die YSK zum Re­vi­die­ren ih­rer er­sten Entschei­dung zwan­gen. Vor dem Hin­ter­grund des öf­fent­li­chen Drucks konn­ten Ge­richte in­ner­halb von we­ni­gen Ta­gen zum Aus­stel­len der er­for­der­li­chen Un­ter­la­gen gez­wun­gen wer­den.
Aus den Ent­wicklun­gen der letzten Ta­ge kann man die bei­den fol­gen­den Schlussfol­ge­run­gen zie­hen: Er­stens: Für die Wei­te­rent­wicklung des Kampfes um de­mo­kra­tis­che Rechte und Frei­hei­ten stel­len die­se ge­mein­sa­men Reak­ti­o­nen ei­nes brei­ten Spekt­rums ei­nen wichti­gen Ge­winn dar. Denn die Reak­ti­o­nen von Po­li­ti­kern, Jour­na­lis­ten und In­tel­lek­tuel­len aus un­ters­chied­li­chen La­gern machten die De­bat­te um die Le­gi­ti­mi­tät der be­vor­ste­hen­den Wah­len erst mög­lich. Sie machten deut­lich, dass die Wah­len oh­ne die Zu­las­sung der unab­hän­gi­gen Kan­di­da­tin­nen und Kan­di­da­ten ih­re Le­gi­ti­mi­tät ver­lie­ren wür­den. Die­ser Hin­weis ent­kräf­te­te die Ar­gu­men­te al­ler Pa­ra­grap­hen­rei­ter, die die er­ste YSK-Entschei­dung als rechtens zu ver­kau­fen ver­suchten. Zwei­tens: Die Macht der Straße­nak­ti­o­nen stan­den im völ­li­gen Eink­lang mit der Le­gi­ti­mi­täts-De­bat­te und er­gänzten die­se. In Is­tan­bul und Di­yar­ba­kir gin­gen Zehntau­sen­de aus Pro­test ge­gen die YSK-Entschei­dung auf die Straßen. Sie pro­tes­tie­ren nicht nur ge­gen das YSK-Ve­to, son­dern auch ge­gen die 10-Pro­zent-Hür­de, ge­gen die un­de­mo­kra­tis­chen Wahl- und Par­tei­en­ge­set­ze und ge­gen die Re­gie­rungspar­tei AKP, die aus wahltak­tis­chen Grün­den die­se nicht geän­dert hat. Un­ter dem Eind­ruck die­ses öf­fent­li­chen Drucks mus­sten die YSK, Ge­richte und re­gie­rungsna­he Me­dien ih­re Hal­tung re­vi­die­ren.
Na­tür­lich muss hier da­rauf hin­ge­wie­sen wer­den, dass die Re­gie­rung, Si­cher­heitskräf­te des Lan­des und die chau­vi­nis­tis­chen Krei­se, die mit Hil­fe der YSK de­mo­kra­tis­che Kräf­te aus­zus­chal­ten ver­suchten, die­se Nie­der­la­ge nicht oh­ne Beschwer­den run­terschluc­ken kön­nen. Desh­alb wer­den sie selbst die klein­sten Wahlkund­ge­bun­gen des Blocks mit bru­ta­ler Ge­walt auf­lö­sen, ei­nen enormen Druck ge­gen die Un­ter­stüt­zer der unab­hän­gi­gen Kan­di­da­tin­nen und Kan­di­da­ten auf­bau­en. Der Mord ei­nes jun­gen De­mon­stran­ten bei den Straße­nak­ti­o­nen oder die Er­stür­mung der „Zel­te des Zi­vi­len Un­ge­hor­sams“ wer­den al­ler Wahrschein­lichkeit nach nicht die letzten ne­ga­ti­ven Er­fah­run­gen sein, mit de­nen wir rechnen. Es gibt auch An­zei­chen da­für, dass mi­li­tä­ris­che Schlä­ge und Po­li­zei­raz­zien ins­be­son­de­re ge­gen kur­dis­che Op­po­si­ti­o­nel­le ver­stärkt fort­ge­setzt wer­den. Die­se Pro­vo­ka­ti­o­nen müs­sen in den „Gren­zen der Le­gi­ti­mi­tät“ beant­wor­tet wer­den. Denn in den nächsten Mo­na­ten wird die­se Ant­wort der Le­gi­ti­mi­tät die wichtig­ste Schwä­che der „dunk­len Hin­ter­män­ner“ sein, die den Aus­weg im Krieg se­hen.
Die oben auf­ge­zählten bei­den Fak­to­ren konn­ten zu­sam­men zum Er­folg füh­ren. Wenn der zwei­te Fak­tor, al­so die Kraft der Straße­nak­ti­o­nen aus­geb­lie­ben wä­re, hät­te die öf­fent­li­che De­bat­te um die Le­gi­ti­mi­tät al­lei­ne nichts be­wir­ken kön­nen. Mit Ar­gu­men­ten über die Rechtssta­at­lichkeit der YSK-Entschei­dung, die an­geb­li­che Unab­hän­gig­keit der Jus­tiz u.ä. wür­de die De­bat­te noch Mo­na­te wei­ter­ge­hen. An­de­rer­seits hät­ten die Straße­nak­ti­o­nen nicht zum Er­folg füh­ren kön­nen, wenn In­tel­lek­tuel­le, Po­li­ti­ker und Jour­na­lis­ten aus vers­chie­de­nen La­gern nicht so entschie­den die YSK-Entschei­dung kri­ti­siert oder in Fra­ge ges­tellt hät­ten. Die Ak­ti­o­nen wä­ren oh­ne die Beg­lei­tung durch die­se De­bat­te als „Straßen­ter­ror“ ab­ges­tem­pelt wor­den. Für bei­de Fäl­le gibt es in der jün­ge­ren Ges­chichte der Tür­kei un­zäh­li­ge Beis­pie­le.
Dass bei­de Fak­to­ren zu­sam­men­wir­ken konn­ten, ist un­ter an­de­rem da­rauf zu­rückzu­füh­ren, dass die 10-Pro­zent-Hür­de und die von ihr ge­nährte Ung­leichheit im Wahlsys­tem das öf­fent­li­che Ge­wis­sen ver­let­zen. Auch oh­ne die Tat­sa­che, dass die Lö­sung der kur­dis­chen Fra­ge nicht wei­ter auf­ges­cho­ben wer­den kann, war ein wei­te­rer entschei­den­der Fak­tor da­für.
Wenn der „Block für Ar­beit, De­mo­kra­tie und Frei­heit“ die­se bei­den Fak­to­ren zu­sam­men­zub­rin­gen ver­mag, wird er ei­nen wichti­gen Beit­rag zur Ein­heit der de­mo­kra­tis­chen Kräf­te leis­ten und die­se an sei­ne Sei­te zie­hen. So wird er aus die­sem Wahlkampf ges­tärkt und den wei­te­ren ge­mein­sa­men Kampf ge­wappnet her­vor­ge­hen.

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