Written by 13:05 HABERLER

„Chemical Tayyeeep – Attention Toxic“

01gazfestival

Seit Tagen verfolgt die Welt nun, wie sich ein kleiner Widerstand um einen Park im Herzen Istanbuls wie ein Lauffeuer sich auf fast alle Großstädte der Türkei verbreitet hat. „Ein Baum stirbt, ein Volk erwacht“, hat einst mal Nazim Hikmet geschrieben – als würde er den Gezi-Park Widerstand schon voraussehen oder herbeisehnen. Denn der Kampf um einen Park, hat sich nur in wenigen Tagen zu einem Aufstand gegen das autoritäre Regime Erdogans fortgesetzt und sogar Menschen auf die Straßen gebracht, die noch nie in ihrem Leben demonstriert oder protestiert haben. Man konnte während den letzten Tagen die Polizei und auch die Regierung von ihrer inhumansten Seite sehen. Szenen, wie rund vierzig Polizisten eine junge Frau mit Knüppeln, Stöcken und Tritten verprügeln, bis sie unbewusst wird, wie man auf die Köpfe von Demonstranten mit Gasgranaten gezielt schießt, wie Wasserwerfer  Menschen wegschleudern und lebensgefährlich verletzen, wie Kinder, Frauen, alte Menschen auf Straßen, Moscheen und Hotels behandelt werden und dabei sogar die behandelnden Ärzte festgenommen werden – all diese Szenen werden nicht leicht ins Vergessen geraten. Dabei hat sich eine Kultur der Solidarität entwickelt, die man lange nicht mehr gesehen hat bzw. die man vorher überhaupt nicht kannte. Menschen helfen einander, man nimmt Verletze in die eigenen Wohnung auf, die man nicht kennt, jeder der aus dem Haus geht, packt erst einmal Erste-Hilfe-Material für Dutzende in seinen Rucksack u.v.m. Die Solidarität spiegelt sich natürlich auch auf den Bannern und Transparenten wider und dementsprechend sehen diese auch aus: „Danke Tayyip, du hast uns zusammengeführt!“, „Versteht ihr nun, weshalb man versucht, uns zu spalten? Denn wenn man es nicht tut, passiert das, was gerade passiert!“, „Wir alle sind Capulcus“, „Tayyip, do you know Istanbul United?“ sind nur einige wenige Beispiele.

Doch was sich neben der Solidaritätswelle, die quer durchs Land zieht, auch mächtig entwickelt hat, ist auch die Kreativität, Satire und Ironie, die die Proteste und Demonstrationen in den letzten Tagen zu einem Kunstwerk für sich  gemacht haben. Die Regierung hat also nicht nur mit dem Widerstand und der Solidarität des Volkes zu kämpfen, sondern auch mit deren „orantısız zeka“ bzw. mit „übermäßigen Intelligenz“, dieser sie eigentlich gar nicht in der Lage sind, nachzukommen bzw. oft auch überfordert sind und nicht wissen, wie sie „eingreifen“ sollen. Der Begriff „orantısız zeka“ entwickelte sich im Gegenzug zur Brutalität der Polizei, die als „übermäßiger“ bzw. „unangemessener Einsatz“ bezeichnet wird. Als in den ersten Tagen des Gezi-Park Widerstandes die Polizisten wieder mit ihrer brutalsten Art und Weise in den Park marschierten, um ihn zu räumen, erwartete sie eine „übermäßig“ friedliche Menge. Denn das einzige, was die Menschen dort gemacht haben, war, Bücher zu lesen. Einer der Demonstranten stellte sich sogar vor die Polizisten und las ihnen vor. Daraufhin machte Melih Gökcek, Oberbürgermeister Ankaras, bei einem TV-Sender die Aussage: „Sie stellen sich vor die Polizisten, lesen ihnen vor und erregen so unsere Beamten!“ So wären diese gezwungen, einzugreifen. Wenn auch nicht in „Übermaßen“, aber etwas Intelligenz bei einem Oberbürgermeister einer inoffiziellen Hauptstadt wäre vielleicht echt von Vorteil. Auch ereignete sich in der letzten Nacht am 17.06. am Taksim-Platz eine Art des Protestes, die der Polizei wieder Schwierigkeiten bereitete: Wie und weshalb und ob überhaupt, und wenn ja wieso und mit welcher Grundlage sollten sie eingreifen? Denn das einzige was an dem Abend passierte, war, dass ein Mann schlicht und einfach nur da stand. Eine Stunde. Zwei Stunden. Fünf Stunden. Bis in die Nacht. Der Protest des “stehenden Mannes“ mitten auf dem Taksim-Platz verbreitete sich rasant im Socialnetwork und schon in Kürze kamen auch schon die ersten Solidaritätsaktionen aus aller Welt. Der „duran adam“, also stehender Mann und „duran kadin“, stehende Frau, war bald nicht mehr alleine und Dutzende standen am selben Platz. Interessant war es zu sehen, wie die Polizei recht konfus neben dem Mann stand und nicht wusste, wie sie sich verhalten soll. Ist das eine Demo? Wenn ja, hätte das Erdogan schon längst verboten. Doch der Mann steht still, fordert nichts. Schwierig. Eben, intelligent. Doch letztendlich wird der stehende Mann doch noch festgenommen und die türkische Polizei handelt so, wie man es von ihr auch nicht anders erwartet hat. Denn sie werden von einem Verständnis geführt, welches sogar Musikinstrumente „festnimmt“. Ja, kein Scherz aber auch kein Grund zur Panik: Denn das festgenommene Klavier von Davide Martello wurde mittlerweile wieder freigelassen. Martello hatte sich mit den Widerstand leistenden Menschen im Gezi-Park solidarisiert und stundenlang am Taksim-Platz unter freiem Himmel die Proteste mit seiner Musik unterstütz. Doch gegen Abend wurde der Platz geräumt und Martellos Auto, Klavier und Handy wurden beschlagnahmt.

John Lennon sagte mal: „Das einzige, mit dem sie nicht umzugehen wissen, ist die Gewaltfreiheit und der Humor.“ Denn mittlerweile weiß die Regierung echt nicht mehr, was zu tun ist. Denn Fakt ist: nicht das Volk, welches seit Tagen einen unglaublichen Widerstand leistet, hat Angst, sondern höchstpersönlich die Regierung selbst. Die Angst der Menschen auf den Straßen scheint völlig besiegt zu sein, denn zum ersten Mal passiert es in der Geschichte der Türkei, dass so viele unterschiedliche politische Gruppierungen, Menschen mit unterschiedlichem sozialem Hintergrund und aus verschiedener ethnischer Herkunft sich zusammenfinden und solidarisch Widerstand leisten. Das scheint auch der Grund dafür zu sein, weshalb noch keine Tränengasgranate, kein Wasserwerfer – auch genannt „TOMA“ oder kein Gummigeschoss es geschafft hat, die Menschen einzuschüchtern. Im Gegenteil: Die Protestierenden nahmen jeden Angriff und die Brutalität der Polizei jedes Mal mit einer größeren Leichtsinnigkeit und Schlagfertigkeit, aber mit einem umso größeren Widerstand entgegen. So konnten zwar die abgefeuerten Tränengasgranaten die Demonstrationen für ein-zwei Stunden auflösen, aber sorgten gleichzeitig auch dafür, dass die Menge umso zahlreicher zurückkam. „Die Gassucht führt mich jeden Tag hier her..“, „Tayyip komm in den Park und lass` spielen!“, „Willkommen zum Istanbuler Gas-Festival“, „Bringt ihr Melonengas mit, für Raki wird gesorgt“, „Ihr hab es mit einer Generation zu tun, die bei GTA Polizisten jagt! Wir sind jetzt ein Level weiter!“ heißt es dann auf den Bannern und Transparenten.

Besonders interessante „Gegeneinsätze“ machte aber auch die Carsi-Gruppe, die Fangruppe des Fußballvereins Besiktas. Bekannt ist Carsi vor allem für ihre sozialkritische Haltung und für ihre kreative Art und Weise zu protestieren. Dieser Tradition treu geblieben handelten sie auch während des Gezi-Widerstandes. Vor einigen Tagen erst riefen sie zu einer riesigen Demo auf, die symbolisch um 19:03 begann und eine unbeschreibliche große Menschenmenge fand sich auf dem Taksim-Platz zusammen. Eines der Aktionen ganz besonderer Art der Carsi-Mitglieder war es, dass sie einen Wasserwerfer, TOMA (Einsatzfahrzeug gegen Demonstranten) entführten und es POMA nannten – Einsatzfahrzeug gegen Polizeigewalt. Es war sehr interessant zu sehen, wie das POMA plötzlich Polizisten jagte, um die Straßen frei zu räumen, damit Menschen ungestört weiter demonstrieren konnten. Dabei sprühten einige auf die Straßen Istanbuls: „You are scared, Arınç you?!“. Und das sollten sie ruhig sein. Weil eine Menge, die einmal begriffen hat, dass man durch Organisiertheit einige wenige an der Spitze zum Zittern bringen kann, wird nicht nachlassen, bis sie das bekommt, was sie auch möchte. Deshalb liebe „Minderheit“ an der Spitze: „Kaç, kaç, kaç Çapulcular geliyor!“ (Lauf, lauf, lauf die Çapulcus kommen!).

 

Yasemen Ilhan

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