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TÜRKEI IST IM WAHLKAMPF

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Levent Tüzel *

Der Wahlkampf in der Türkei geht in die heiße Phase. Nicht nur die Führungsmitglieder der vier im Parlament vertretenen Parteien treten auf den Wahlkampfveranstaltungen auf. Auch der Staatspräsident zählt zu den Hauptfiguren im Wahlkampf. Unter Missachtung der Verfassung und Bruch des Eides hält er Wahlkampfreden für die AKP und fordert den Wechsel vom parlamentarischen zum Präsidialsystem. Und der eigentliche Wahlkampf findet zwischen der AKP und der Demokratischen Partei der Völker (HDP) statt, die als ein Bündnis verschiedener Bevölkerungsgruppen entstand und erstmalig zur Wahl antritt. Die AKP versucht mit einem aggressiven Wahlkampf die Sympathien der Bevölkerung gegenüber der HDP zurückzudrängen. Dabei setzt sie alle Möglichkeiten des Staates ein.

WAS ZEIGEN DIE UMFRAGEN?
Umfragen vor den Wahlen dienen meistens dazu, die Wahltrends in der Bevölkerung zu manipulieren und einen psychologischen Druck auf Wähler aufzubauen. Aktuelle Umfrageergebnisse zeigen vielerlei:Erstens stehen die wirtschaftlichen Probleme, unter denen große Teile der Bevölkerung leiden, auf der Liste der wichtigsten Probleme an vorderster Stelle. Deshalb bilden sie die wichtigste Säule im Wahlkampf der Oppositionsparteien, während die Regierungspartei versucht, sie gänzlich auszublenden. Deshalb macht sie sich z.B. über die Versprechen der Opposition lustig, den Mindestlohn zu erhöhen, der heute sechs Millionen Beschäftigte und deren Familienangehörige zu einem Leben im Elend zwingt. Die AKP lehnt sämtliche Forderungen ab, die Unternehmen und Konzerne zu belasten
An zweiter Stelle stehen die Probleme der Demokratisierung. Immer mehr Menschen sind besorgt über fehlende Demokratie und die Tendenz zu diktatorischen Gewaltformen. Erdogan bezeichnet sich selbst als unparteiisch und weist bei jeder Gelegenheit darauf hin, ein mit den Stimmen des Volkes gewählter Staatspräsident zu sein und das parlamentarische System durch das Präsidialsystem ersetzen zu wollen. Deshalb greift er in den Wahlkampf ein und möchte 400 Mandate für die AKP, damit die für den Systemwechsel erforderliche Zweidrittel-Mehrheit erreicht wird. Die Regierung ist auf Repression und Diktatur angewiesen, um ihre Ziele erreichen zu können. Deshalb war eine ihrer letzten Amtshandlungen, mit aller Gewalt und trotz aller Kritik ein neues Sicherheitsgesetz durch das Parlament durchzudrücken. Dieses sieht erweiterte Rechte für die Polizei und die Ersetzung der Judikative durch die Exekutive vor. Erste Anwendungsbeispiele sah man am Tag der Arbeit, als Demonstrationen durch Polizeigewalt aufgelöst und Arbeiter verhaftet wurden.
Drittens spielt die 10-Prozent-Hürde eine zentrale Rolle. Das weitere Schicksal der AKP ist mit der Frage verbunden, ob die HDP, deren Listenplätze zur Hälfte von Frauen belegt sind, diese Hürde schafft. Ob sie weiterhin die Regierung bilden wird, hängt von der Zahl der HDP-Mandate im Parlament ab. Diese Schlüsselrolle der HDP bietet die Grundlage für vielfältige Spekulationen und Manipulationen. Die 10-Prozent-Hürde ist ein Überbleibsel des Militärputsches. Auch wenn die Umfragen gegensätzliche Ergebnisse zeigen, gehen die meisten davon aus, dass die HDP den Einzug ins Parlament schaffen wird. Diese Aussicht bildet den Grund dafür, warum die AKP-Regierung selbst davor nicht zurückschreckt, die Polarisierung der Wähler bis zu einer Verfeindung der verschiedenen Lager voranzutreiben. Angesichts der zahlreichen Anschläge auf Parteibüros der HDP finden die AKP-Vertreter kein Wort der Veruteilung und veranlassen keine Aufklärungs- oder Strafverfolgungsmaßnahmen.

DIE KURDISCHE FRAGE UND DER FORTGANG DES LÖSUNGSPROZESSES
Die Schwäche der AKP-Regierung führte in den letzten Monaten dazu, dass sie sich im Wahlkampf immer mehr des Nationalismus bedient. Erdogan als alleiniger Staats- und Regierungschef gefährdete mit seinen Aussagen den laufenden Lösungsprozess und erklärte alle getroffenen Vereinbarungen für nicht mehr gültig. Kurzum: Er hat den Dialogtisch verlassen und an den Anfang zurückgekehrt. Die Benennung der kurdischen Frage, die er noch vor Kurzem zur Chefsache erklärt hatte, ist für ihn heute lediglich der Ausdruck separatistischer Bemühungen. Es liegt auf der Hand, dass er damit nicht die Unterstützung für die HDP verhindern und den Wahlausgang beeinflussen wird, sondern im Gegenteil den Lösungsprozess und den Frieden gefährden wird. Die andauernde Waffenruhe erfordert, dass man sein Gegenüber “nicht dämonisiert” und eine entsprechende Wortwahl verwendet. Wenn ein Ministerpräsident einen Parteichef zum “Verräter” erklärt oder die Gegenseite als “Terroristen” bezeichnet, ist das lediglich ein Beleg für seine offensichtliche Schwäche.

DIE INSTRUMENTALISIERUNG DER RELIGION
Der Mißbrauch und die Instrumentalisierung der Religion gehörten in der Türkei stets zu den Methoden, die das Kapital und reaktionäre Kräfte zum Machterhalt einsetzten. So trat der Putschistenführer Kenan Evren vor drei Jahrzehnten mit einem Koran in der Hand auf und begann seine Reden mit den Worten “im Namen Allahs”. Diese Tradition wird jetzt vom Staatspräsidenten fortgesetzt.
Die Auflösung der Staatlichen Religionsbehörde, die Beendigung des Religionsunterrichts als Wahlpflichtfach an Schulen, die die HDP als Voraussetzung eines wahren Laizismus und gegen Instrumentalisierung der Religion in ihr Wahlprogramm aufgenommen hat, wird als “Atheismus” und “Religionsfeindschaft” präsentiert. Erdogan ging so weit, dass er dem Chef der größten Oppositionspartei eine “Lebensführung ohne den Koran” bescheinigte.

DIE SICHT DER ARBEITERKLASSE UND DEREN POLITIK
Die größten Verlierer dieser 12 Jahre andauernde Politik der Ausbeutung, des Kriegs und des Missbrauchs waren zweifellos die Arbeiterklasse und die Beschäftigten. Sie mussten nicht nur materiellen Schaden hinnehmen. Auch ihre politischen und kulturellen Organisationen erlitten hohe Verluste. Das Heer der Leiharbeiter und Arbeitslosen, das Millionen zählt und rund 15000 Tote, die bei so genannten Arbeitsunfällen ihr Leben ließen, sind das Resultat der 12-jährigen AKP-Regierung. Die Arbeiter wurden vor dem Hintergrund ihrer ethnischen Herkunft oder ihres Glaubens gegeneinander ausgespielt und angefeindet. Ihr Recht auf freie gewerkschaftliche Organisation wurde zerschlagen. Unzählige Streiks wurden verboten. Den öffentlich Bediensteten wurde das Recht auf Streiks oder Gewerkschaften vorenthalten. Während die Zahl der Beschäftigten in die Höhe schnellte, nahm auch die Ausbeutung zu. Millionen Beschäftigte konnten von den wirtschaftlichen Entwicklungen nicht profitieren und wurden zu einem Leben in Armut verurteilt. Vor diesem Hintergrund schlugen sich die Arbeiterklasse, die diesem Ausbeutungssystem und dem Krieg ein Ende zu setzen hat, sowie die Partei der Arbeit (EMEP) als deren poliltische Kraft bei den Wahlen auf die Seite derjenigen, die ihre Kräfte unter dem Dach von HDP gebündelt haben. Nach Ansicht von EMEP können die Macht der Arbeitklasse und die Volksdemokratie nicht ohne die Allianz mit der HDP und den Kräften der Bevölkerung errichtet werden.

* Mitglied des Türkischen Parlaments (HDP) und Kandidat für den Wahlkreis III, Istanbul

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