Written by 11:17 HABERLER

Der „neue Friedensprozess“ und die Lösung der Kurdenfrage

Im vergangenen Jahr haben die öffentliche Aufforderung des MHP-Vorsitzenden Devlet Bahçeli, die PKK solle sich auflösen, sowie Abdullah Öcalans positive Reaktion darauf die Erwartung eines neuen politischen Prozesses in der kurdischen Frage erheblich verstärkt.

Yekta Dogan

Bahçelis symbolischer Händedruck mit Vertretern der prokurdischen DEM-Partei im Parlament, die anschließenden Gespräche zwischen DEM, Präsident Erdoğan und Bahçeli sowie schließlich Öcalans „Aufruf zu Frieden und Demokratischer Gesellschaft“ markieren eine neue Phase. Institutionell fand diese Entwicklung ihren Ausdruck in der Einrichtung der „Kommission für Nationale Solidarität, Brüderlichkeit und Demokratie“.

Historischer Wendepunkt?

Öcalan erklärte, er verstehe Bahçelis Botschaft als einen an einem „historischen Wendepunkt“ formulierten Friedensaufruf mit demokratischem Gehalt. In seinem Aufruf forderte er die PKK auf, einen Kongress einzuberufen, die Waffen niederzulegen und sich selbst aufzulösen. Die Organisation sei als Reaktion auf die Leugnung der kurdischen Existenz und unter dem Einfluss des realsozialistischen Modells entstanden, habe jedoch ihren historischen Zweck erfüllt. Die Anerkennung der kurdischen Existenz bedeute, dass das zentrale Ziel erreicht sei.

Dieser Kurswechsel wird von Öcalan nicht als Niederlage, sondern als Ergebnis veränderter historischer Bedingungen begründet. Dazu zählen nicht nur gesellschaftliche Veränderungen in der Türkei, sondern vor allem regionale und internationale Entwicklungen. Die anhaltenden Kriege im Nahen Osten, die Neuordnung der Region und die Rolle der USA als dominierende äußere Macht hätten den Charakter bewaffneter Bewegungen grundlegend verändert. Kurdische Akteure würden zunehmend in geopolitische Machtkonflikte eingebunden und liefen Gefahr, als Instrumente imperialistischer Interessen zu fungieren. Ein Festhalten am bewaffneten Kampf erhöhe diese Gefahr.

Diese Einschätzung erhält zusätzliche Brisanz vor dem Hintergrund der Entwicklungen in Syrien. Während die türkische Regierung die organisierte kurdische Selbstverwaltung im Norden Syriens – anders als die Autonomieregion im Irak – konsequent als PKK-nah definiert und daraus militärische und politische Interventionsansprüche ableitet, versuchen die USA und Frankreich, über Abkommen zwischen den syrischen Demokratischen Kräften (SDG) und Damaskus eine neue Sicherheitsarchitektur zu etablieren. Die türkische Regierung liest diese Prozesse primär durch die Brille der „nationalen Sicherheit“. Dass solche Sicherheitskonzepte stets von den Interessen der beteiligten Mächte geprägt sind, zeigt auch die jüngste US-amerikanische Nationale Sicherheitsstrategie, die trotz der Rhetorik vom „Frieden durch Stärke“ faktisch eine Kriegs- und Interventionsdoktrin darstellt.

Innenpolitisch argumentiert Öcalan, dass der andauernde Konflikt in der Türkei rechte, chauvinistische und autoritäre Kräfte gestärkt habe. Nationalistische Parteien und Sicherheitsapparate nutzten den Krieg, um demokratische Rechte einzuschränken, gesellschaftliche Polarisierung zu vertiefen und ihre Macht zu sichern. Der bewaffnete Konflikt sei daher nicht nur militärisch, sondern auch politisch zu einer Sackgasse geworden. In den breiten Massen im Einflussbereich der DEM-Partei und der PKK wurden diese Aufrufe mit einer Mischung aus Erwartung, Skepsis und Hoffnung aufgenommen. Die erste konkrete Entwicklung in Richtung der Aufrufe war die erste Etappe der Waffenabgabe. Delegationen reisten hin und her, führten Gespräche, und schließlich wurde eine Parlamentskommission eingerichtet, „um festzulegen, was rechtlich möglich ist“. Mit diesem „neuen Schritt“ verstärkten sich die Erwartungen weiter.

Reaktionen der verschiedenen Strömungen

Nun wird von einem „neuen Prozess“ mit Schwerpunkt auf dem Begriff des Friedens gesprochen. Es gibt offene Gegner ebenso wie bürgerliche Parteien, die sich vorsichtig annähern und nur bedingt unterstützen.

Sowohl AKP als auch MHP verstehen den Prozess in erster Linie als staatlich kontrollierte Entwaffnungs- und Auflösungsstrategie der PKK. Vertreter beider Parteien machten unmissverständlich klar, dass es nicht um eine grundlegende Klärung der kurdischen Frage oder um kollektive Rechte gehe, sondern um die vollständige Zerschlagung der Organisationsstrukturen. Erst nach staatlicher „Feststellung und Bestätigung“ des Endes der PKK sollen weitere Schritte möglich sein.

Chauvinistisch-nationalistische Kreise, die die Existenz einer kurdischen Frage leugnen, sowie rechte Akteure in den kapitalnahen Medien, versuchen eine Gegenbewegung zu organisieren. Die Führungen der İYİ-Partei und der Zafer-Partei, einige pensionierte Generäle und chauvinistische Publizisten positionieren sich in diesem Lager.

Andere Parteien setzen unterschiedliche Akzente. Während die CHP vorsichtige Reformvorschläge formuliert, aber insgesamt eine auffällige Zurückhaltung gegenüber der kurdischen Frage zeigt, vertreten linke Parteien wie DEM, EMEP und TİP eine stärker historisch und sozial verankerte Perspektive. Besonders hervorzuheben ist dabei der Verweis der EMEP auf gemeinsame Klassenkämpfe türkischer und kurdischer Arbeiter, etwa während der Bergarbeiterstreiks Anfang der 1990er Jahre, als Parolen wie „Zonguldak und Botan Hand in Hand“ eine reale soziale Brüderlichkeit ausdrückten.

Öcalans Bruch mit dem Sozialismus

Vor diesem Hintergrund erscheint Öcalans strategischer Vorschlag ambivalent. Einerseits eröffnet der Übergang vom bewaffneten Kampf zur demokratischen Politik reale Möglichkeiten zur Entschärfung des Konflikts. Andererseits bleibt offen, ob der vom Staat dominierte Prozess tatsächlich auf eine demokratische Lösung abzielt oder primär auf Kontrolle und Integration.

Hinzu kommt ein theoretischer Bruch. Öcalan grenzt sich ausdrücklich vom Marxismus und vom historischen Sozialismus ab und propagiert einen „neuen Sozialismus“, der das Kapital nicht grundsätzlich in Frage stellt. Damit stellt sich jedoch eine grundlegende Frage: Kann ein Projekt, das die kapitalistischen Eigentums- und Machtverhältnisse unangetastet lässt, überhaupt sozialistisch sein? Oder handelt es sich um eine politische Anpassung an bestehende Verhältnisse, die unter neuem Namen ihren wahren Charakter verschleiert?

Angesichts der Tragweite des laufenden Prozesses ist diese Frage nicht nur theoretisch, sondern vor allem politisch zentral. Ob sich eine reale demokratische Lösung der kurdischen Frage eröffnet oder lediglich eine neue Form ihrer Verwaltung, wird nicht zuletzt davon abhängen, ob Opposition, kurdische Bewegung und demokratische Kräfte einen gemeinsamen, eigenständigen politischen Pol entwickeln können – jenseits staatlicher Diktate und regionaler Machtkämpfe.

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