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Die Freiheitlich-Demokratische Marktordnung

Die „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ (FDGO) gilt als moralisches Fundament der Bundesrepublik. Sie soll garantieren, dass sich „das dunkle Kapitel der Geschichte“ nicht wiederholt, dass Demokratie, Menschenwürde und Rechtsstaat unangetastet bleiben. Doch nicht erst in einer Zeit, in der Armut, Ungleichheit und Flucht zunehmen, stellt sich die Frage: Verteidigt diese Ordnung tatsächlich die freie Entfaltung aller Menschen oder stabilisiert sie eine Gesellschaft, in der Armuts- und Reichtumsverhältnisse legitimiert und politische Teilhabe nur unter der Prämisse der Wahrung dieser Verhältnisse geduldet werden?

Oktay Demirel

Die gegenwärtige Sozialpolitik der Bundesregierung spricht eine deutliche Sprache. Im sogenannten „Herbst der Reformen“ werden Renten eingefroren, Bürgergeld und Bildungsetats gekürzt, während gleichzeitig das Militär, die Rüstungsindustrie und der Sicherheitsapparat Milliarden erhalten. Der Staat zieht sich aus seiner sozialen Verantwortung zurück und ersetzt durch Bürgerinnen und Bürger aufrechterhaltene Solidarsysteme durch Repression und Überwachung.

Diese Entwicklung ist kein Zufall, sondern deutet auf eine weltweite Rechtsverschiebung hin: Der Staat tritt immer aggressiver als Hüter ökonomischer Stabilität und Verteidiger der Wirtschaftsinteressen der Monopole seiner Nationalgrenzen auf.

Wo früher notgedrungen, durch Arbeiterbewegung und Nähe zu konkurrierenden Staaten, wie der DDR, „Freiheiten, Rechte und soziale Sicherheit“ hervorgehoben wurden, werden heute diese Errungenschaften immer weiter beiseite gewischt, um Platz zu machen für Ellenbogen und die immer offensichtlichere Wahrung der Konzerninteressen.


Das neue Verfassungsschutzgesetz NRW – Freiheit im Rückzug

Beispielhaft zeigt sich dieser Wandel im Entwurf des neuen Verfassungsschutzgesetzes NRW. Unter dem Vorwand technischer Modernisierung und Terrorismusprävention soll der Verfassungsschutz weitreichende neue Befugnisse erhalten: Zugriff auf Kontodaten, Reisedaten, Bewegungsprofile, Videoüberwachung im öffentlichen Raum und sogar auf private Endgeräte durch sogenannte Quellen-Telekommunikationsüberwachung.

Damit wird die Grenze zwischen Polizei und Nachrichtendienst, die nach 1945 bewusst gezogen wurde, nahezu aufgehoben. Geheimdienste sollen nun auch mit schwacher richterlicher Kontrolle operativ tätig werden dürfen, zentralisiert beim Amtsgericht Düsseldorf. Grundrechte wie Meinungsfreiheit und Versammlungsfreiheit können künftig eingeschränkt werden. Die Gewaltenteilung wird formal gewahrt, aber praktisch ausgehöhlt. Was im Namen der Sicherheit geschieht, ist in Wahrheit ein Rückbau der Freiheit. Der Staat gibt vor, die FDGO zu schützen, verwandelt sie jedoch in ein Werkzeug der Kontrolle. Dass ausgerechnet der Verfassungsschutz, der immer wieder in Zusammenhang mit der Finanzierung und Unterstützung von rechtsterroristischen Vereinigungen und rassistischen Parteien steht, mit weiteren Befugnissen ausgestattet werden soll, macht deutlich, wie es um die „Demokratie“ in der demokratischen Grundordnung steht.

Der autoritäre Zug der Gegenwart

Die Regierung kürzt bei denen, die jeden Euro zweimal umdrehen müssen – und rüstet gleichzeitig Polizei, Bundeswehr und Geheimdienste auf. Das zeigt, welche Richtung eingeschlagen wird: Statt soziale Probleme zu lösen, werden sie mit dem Gewaltmonopol des Staates verwaltet. Wer protestiert, wer für bessere Löhne, für Klimaschutz oder gegen Aufrüstung auf die Straße geht, soll künftig schneller beobachtet werden können. Schon jetzt erleben viele Aktive, dass sie wegen friedlicher Aktionen kriminalisiert oder von der Polizei eingeschüchtert werden. Während rechte Netzwerke in Polizei und Bundeswehr oft verharmlost werden, geraten Klimaaktivisten, Gewerkschafter und Sozialproteste zunehmend ins Visier der Sicherheitsbehörden. Die beispiellosen Repressionen gegen palästinasolidarische Proteste waren der erste Schritt, um dieses Vorgehen und die Reaktionen darauf in der Gesellschaft zu erproben. Die Versammlungsfreiheit – übrigens auch eines der Grundrechte – wurde hier ebenso mit Füßen getreten, Demonstrationen unter fadenscheinigen Argumenten verboten oder gewaltsam aufgelöst. Die freiheitlich-demokratische Grundordnung schützt die bestehenden Machtverhältnisse gegen die Freiheit ihrer Bürger, vielerorts sogar mit wiedereingeführten Berufsverboten.

Solche Entwicklungen sind nicht auf Deutschland beschränkt. Weltweit lässt sich beobachten, wie bürgerliche Demokratien ihre autoritären Züge verstärken. In den USA erklärte Donald Trump „die“ Antifa zur Terrororganisation – ein politisches Signal, das Kritik am Kapitalismus und am Rechtsradikalismus kriminalisieren soll. In Ungarn stehen Antifaschistinnen und Antifaschisten vor Gericht, während die Regierung Orbán die Justiz gleichschaltet und oppositionelle Medien ausschaltet.

Die neue Logik der Kontrolle

Das geplante Verfassungsschutzgesetz in NRW soll sogar die automatisierte Datenanalyse mithilfe von „mathematisch-statistischen Verfahren“ (sprich KI) erlauben. Millionen von Datensätzen können verknüpft, Profile erstellt und Risikopersonen algorithmisch identifiziert werden. Die Grenzen zwischen Prognose, Verdacht und Überwachung verschwimmen. Damit entsteht eine Form digitaler Massenüberwachung, die nicht mehr an individuelle Schuld, sondern an statistische Wahrscheinlichkeit gebunden ist. Es ist die technokratische Umgestaltung einer Gesellschaft, den man aus dystopischen Scifi-Romanen und Filmen kennt: Misstraue den Vielen, die gesellschaftlichen Reichtum erschaffen, um die Wenigen zu schützen, die sie sich aneignen.

Zwei Seiten einer Medaille

Der sogenannte „autokratische Sicherheitsstaat“ ist aber kein Widerspruch zum „neoliberalen Freiheitsstaat“ der 1990`er bis 2010`er Jahre, sondern seine evolutionäre Umwandlung. Der Markt und seine Umkämpfung produzieren soziale Unsicherheit auf internationaler Ebene– und Nationalstaaten reagieren darauf mit Abbau von Freiheiten. Die Logik lautet: Wenn Menschen von Lohn und Arbeit nicht mehr leben können, wird „Sicherheit“ zur Ersatzidee für Gerechtigkeit, quasi zum neuen „Opium des Volkes“. Alte und neue Feindbilder werden herausgekramt, neu aufgebaut, mit der Vortäuschung von Unsicherheit in die Köpfe der Menschen eingehämmert.

Eine Ordnung, die Stabilität über Gerechtigkeit stellt

Die deutsche Verfassung ist zweifellos ein Fortschritt gegenüber der Geschichte des 20. Jahrhunderts gewesen. Doch sie blieb in zentralen Punkten unvollständig. Sie schützt die individuelle Freiheit, aber keine soziale Gleichheit und der damit verbundenen Menschenwürde. Sie garantiert Eigentum, aber nicht den gleichen Zugang zu Bildung, Gesundheit oder Wohnraum.

Die „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ verkörpert die Stabilität des bestehenden Systems – nicht seine „Verbesserung“. Wer soziale Eigentumsformen, kollektive Mitbestimmung oder auch nur eine demokratische Wirtschaft fordert, wird schnell in die Nähe des „Extremismus“ gerückt. Diese ideologische Funktion des Verfassungsschutzes als Wächter über die Grenzen des Sagbaren, ist längst Teil seiner Macht und dass dieser auf dem rechten Auge blind ist, ist seit NSU und dem gescheiterten NPD-Verbot sicherlich auch kein Geheimnis mehr.

Wessen Welt ist die Welt?

Die FDGO präsentiert sich als neutrale Ordnung. Doch in der Praxis dient sie dazu, die politische und ökonomische Hierarchie zu stabilisieren. Sie schützt die „freiheitliche“ Marktordnung ebenso wie das staatliche Gewaltmonopol – zwei Säulen derselben Struktur. Sie soll angeblich die beste aller Gesellschaften –„das Ende der Geschichte“- schützen. Aber welche Gesellschaft ist das?

Es ist eine Ordnung, in der das Eigentum unantastbar ist, in der Konzerne Milliarden verdienen, während Arbeiterinnen und Arbeiter mit Leihverträgen und Minijobs abgespeist werden. Eine Ordnung, die Kriege finanziert, aber den Heizkostenzuschuss und eine wohlverdiente Rente verwehrt.

Das Grundgesetz schützt viele Freiheiten der Macht und des Reichtums– aber keine soziale Gleichheit. Die freiheitlich-demokratische Grundordnung schützt vor allem sich selbst – nicht die Menschen, die in ihr leben. Die Aufgabe sollte sein, die Freiheit sozial zu machen und die Menschen von Marktzwängen zu befreien – damit Demokratie mehr wird, als nur ein Wort im Munde der Mächtigen.

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