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Die Türkei steht kurz vor den Wahlen- der Druck auf oppositionelle Kräfte wächst

Düzgün Altun

Am 29. Oktober 2023 feiert die Türkei die 100-jährige Gründung der Republik. In diesem Jahr finden auch die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt. Je näher sie rückt, desto aggressiver wird die Stimmung im Land. Die Unsicherheit der Regierungskoalition, bestehend aus AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) und MHP (Partei der nationalistischen Bewegung) wird immer größer, zumal die Umfragewerte deutlich machen, wie die Zustimmung weiter schwindet. Nach den gegenwärtigen Umfragen erreicht die aktuelle Regierung gerade mal 31 Prozent.

Durch die wachsende instabile wirtschaftliche und politische Lage, wächst der Unmut in der Bevölkerung. Das Wirtschaftswachstum ist gegenüber 2021 von 11,3 Prozent auf 4,9 Prozent erheblich abgefallen. Auch wenn die Inflation im letzten Quartal zurückgegangen ist, ist sie dennoch (nach offiziellen Angaben 64,3 Prozent, nach Angaben unabhängiger Studien liegt die Inflation bei weit mehr als 100 Prozent) sehr hoch. In zwei Jahren hat die Währung eine Abwertung von mehr als 70 Prozent erlebt. Und Prognosen für die nächsten Jahre sind ebenfalls eher negativ.

„Wahlgeschenke“

Erdoğan ist seit 20 Jahren an der Macht. Von 2003 bis 2014 als Ministerpräsident, seit 2014 als Staatspräsidenten. Doch nun macht sich, sowohl was die nötige Zahl an Parlamentssitzen betrifft, wie auch bezüglich seiner Wiederwahl als Staatspräsident, eine Unsicherheit breit. Neben der Ankündigung ein „letztes Mal“ antreten zu wollen, versucht die Regierung mit vermeintlichen „Wahlgeschenken“ das Ruder rumzureißen. Zunächst kündigte Erdogan an, dass der Mindestlohn ab dem 1. Januar 2023 von 5.500 Lira (273 Euro), auf 8.500 Lira (422 Euro) angehoben wird. Was prozentual gesehen wie ein hoher Anstieg aussieht, ist, angesichts der Teuerungen im Land, nichts mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein. Dieser Mindestlohn ist gerade mal etwas mehr als 700 Lira über der Hungergrenze und liegt weit unter der Armutsgrenze. Dem folgte die Ankündigung der Rentenerhöhung von 25 Prozent und Lohnerhöhung für Beamte um 30 Prozent. Auch diese Anhebungen bleiben weit unter den Erwartungen der Menschen. Außerdem verkündete Erdoğan, die Abschaffung des Renteneintrittsalters zum neuen Jahr. In der Türkei ist das Renteneintrittsalter für Frauen mit 58 und für Männer mit 60 erreicht, wenn die Mindestzahl von 7000 Arbeitstagen erfüllt wurde. Mit diesem Schritt erfüllt Erdoğan im Grunde nichts anderes als die seit Jahren von der Bewegung „Wegen Alters an der Rente gehinderten“ (Emeklillikte Yaşa Takılanlar, EYT) geforderte Umsetzung des geltenden Rechts. Was aber weit bekannt ist, ist, dass von den knapp 14 Millionen Rentnerinnen und Rentnern mehr als die Hälfte, weil ihre Rente nicht ausreicht, weiterhin arbeiten muss.

Wachsende Repressionen

Die Wahlen finden regulär am 18. Juni diesen Jahres statt. Doch seit Wochen wird viel über vorgezogene Wahlen diskutiert. Ob das passiert, wird sich zeigen. Nicht völlig ausgeschlossen ist auch eine Verschiebung der Wahlen. Erdoğan hält sich beide Optionen frei, um einen für sich positiven Ausgang der Wahlen wahrscheinlicher zu machen. Diese Wahlen werden in unterschiedlichen Kreisen als die wichtigsten Wahlen überhaupt gekennzeichnet. Der Regierungsallianz stehen zwei Oppositionskräfte gegenüber. Auf der einen Seite, der Sechser-Bündnis, „Bündnis der Nation“ um die CHP (Republikanische Volkspartei) mit der nationalistischen İYİ Parti (Gute Partei), einer Abspaltung der MHP, zwei AKP-Abspaltungen, Deva und Gelecek, die islamistische Saadet Partisi (Partei der Glückseligkeit) und die Demokrat Parti (Demokratische Partei). Ein Gemisch aus kemalistisch nationalistischen und islamistischen Kräften, die keine wirkliche Alternative zu der Regierung darstellt und auch in der Bevölkerung nicht das nötige Vertrauen erlangt. Auf der anderen Seite, das am 25. September gegründete „Bündnis für Arbeit und Freiheit“, mit der HDP (Demokratische Partei der Völker), EMEP (Partei der Arbeit), TIP (Arbeiterpartei der Türkei), TÖP (Partei der gesellschaftlichen Freiheit, EHP (Partei der proletarischen Bewegung und SMF (Föderation der sozialistischen Parlamente, die bei diesen Wahlen eine Schlüsselrolle spielen wird. Die Politik der AKP-MHP Regierung versucht mit allen Mittel die oppositionellen Kräfte zu spalten und zu schwächen. Dabei nutzt Erdoğan sowohl die Medien, von denen 95 Prozent Regierungsnahe sind, wie auch die Justiz, die er unter seiner Kontrolle hat. In der Türkei herrschen seit 20 Jahren ein Klima der Angst und eine enorme gesellschaftliche Polarisierung. Die Justiz ist, das Verfassungsgericht mit eingeschlossen, zum größten Teil unter seiner Kontrolle. Das Haft- und Politikverbotsurteil für Imamoǧlu (CHP) (regierender Bürgermeister von Istanbul) ist ein klares Zeichen dafür. Imamoǧlu war eine der möglichen Kandidaten der Opposition bei der Präsidentenwahl. Das Parteiverbotsverfahren gegen die HDP kommt in die entscheidende Phase. In Zusammenhang hat ein Gericht entschieden, die staatliche Finanzierung von ca. 27 Millionen Euro für die HDP zu streichen.


Für eine freie Presse- Solidarität mit Evrensel

Was die Pressefreiheit angeht, ist die Türkei im Ranking der Pressefreiheit von Reportern ohne Grenzen international mit Platz 149 von 180 am untersten Rand. Nach Information vom Verband zeitgenössischer Journalisten, wurden 2022 in 174 Gerichtsverfahren 263 Journalisten verurteilt. Im Oktober letzten Jahres wurde das sogenannte „Desinformationsgesetz“ verabschiedet, welches jegliche oppositionelle Meinung unter Strafe stellt. Seit der Gründung vor 27 Jahren steht die Tageszeitung Evrensel unter Repressionen. Mitarbeiter werden verhaftet und getötet. Neben Haftstrafen werden Bußgelder verhängt und jegliche finanzielle Unterstützung untersagt. Die Medizinerin, Vorsitzende der türkischen Ärztekammer und Kolumnisten von Evrensel, Şebnem Korur Fincancı ist aktuell in Haft. Dabei ist Evrensel ein Dorn im Auge der AKP Regierung. Sie berichtet nicht nur von, sondern auch an Seite der fortschrittlichen Kämpfe in der Türkei. Sei es der Kampf der Frauenbewegung für ein Leben in Sicherheit und Gleichberechtigung oder von den Kämpfen der Werktätigen für mehr Lohn und die ihnen zustehende Interessensvertretung, wie z.B. beim Zigarettenproduzenten Philip Morris. Weil aber politische Repressionen nicht gegen Evrensel wirken, werden die finanziellen Maßnahmen gegen die Zeitung immer vehementer. Nachdem immer wieder Redakteure, Journalisten und auch Karikaturisten der Evrensel zu Geldstrafen unter fadenscheinigen Gründen verurteil wurden, wurde ihnen vor kurzem das Recht auf Werbeanzeigen und somit eine wichtige Einnahmequelle entzogen.

Kurz vor den Wahlen wird der Druck auf Evrensel weiter zunehmen. Sie braucht heute mehr Solidarität als zuvor. Unterstützen wir Evrensel, indem wir z.B. das englischsprachige Abo abschließen oder die Zeitung direkt mit einer Spende am Leben halten.

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