Written by 11:47 HABERLER

Ein dunkles Kapitel der Schweizer Geschichte

Verdingung. Kinder von Alleinerziehenden, aus armen Familien, deren Eltern straffällig wurden oder Waisen wurden zur „Erziehung und Lebenshaltung“ durch den Staat und die Kirche fremdplatziert. Die Fremdplatzierung bedeutete allerdings ein Grauen für die Verdingkinder. Nachdem es 1789 in der Schweiz laut Gesetz nicht mehr erlaubt war, Kinder unter 14 Jahren in Fabriken arbeiten zu lassen, begann eine Zeit, in der 500000 Kinder ab vier Jahren brutal ausgebeutet, misshandelt, missbraucht und versklavt wurden. Bis zum Jahr 1974 war dieses Gesetz in der Schweiz nicht mal verboten. Auf Märkten wurden diese Kinder wie Vieh betastet, betrachtet und an Bauern versteigert und mussten von da an schwere Arbeiten auf den Bauernhöfen verrichten. Da die Heimatgemeinde des Verdingkindes den Bauern, der das Kind aufnahm, auch Kostgeld zahlen musste, hat der Bauer, der am wenigsten bot, das Kind erhalten. Keiner kümmerte sich um die Kinder nachdem sie weggegeben wurden, denn sie galten als gerettet. Bis Anfang der 1960er Jahre wurden Kinder an Bauern versteigert. Nicht mal heute kümmert es die Schweiz so wirklich. Viel zu lange schon wurde das Thema Verdingkinder in der Schweiz todgeschwiegen. Eine Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels erfolgt es erst seit einigen Jahren.
Aufarbeitung, öffentliche Entschuldigung, finanzielle Entschädigung
Die Aufarbeitung der Geschichte der Verdingkinder lag in der Initiative einzelner Historiker und der Betroffenen selbst. Marco Leuenberger ist einer der Historiker, der seit 1998 versucht, Licht ins Dunkel zu bringen. Sein Vater war selbst ein Verdingbub. Für die Ausstellung „Verdingkinder reden“, welche 2009 eröffnet wurde, haben sie hunderte Verdingkinder befragt. Erstmals wurden wissenschaftliche Arbeiten zu dem Thema verfasst. Es folgten Konferenzen, Veranstaltungen mit Zeitzeugen und Filme, mit denen die Aufarbeitung fortschritt. Die Ausstellung bekam so viel positive Rückmeldung, sodass sie bis 2016 verlängert wurde. Für den Film „Der Verdingbub“, der 2011 erschien, wurden ca. 1000 betroffene Menschen interviewt. Im März letzten Jahres protestierten die Verdingkinder und ihre Angehörigen für eine finanzielle Entschädigung.
Diese ist allerdings nicht so selbstverständlich für die Schweiz. Eine Wiedergutmachungsinitiative hat mit 110000 beglaubigten Unterschriften im Dezember 2014 ein Volksbegehren eingereicht. Es soll ein Fond in Höhe von 500 Millionen Franken eingerichtet werden, dieses Geld soll den Opfern ausgezahlt werden. Der Präsident des Vereins Netzwerk- verdingt, Walter Zwahlen, fordert auch, dass Zahlungen erfolgen müssen, solange die Opfer noch leben und das von Staat und Kirche, welche den Schaden angerichtet haben. Zahlen will bislang keiner.
Als ob dies nicht genüge, müssen hunderte Verdingkinder heute feststellen, dass sie auch noch bestohlen wurden. Immer wieder finden Opfer in ihren Akten Notizen über Sparbücher, die heute nicht mehr auffindbar sind. Als Täter kommen der Vormund in Frage, der Pflegevater, der Pfarrer, Behörden. Oder die Banken suchten niemals nach den Besitzern der Konten und lösten diese einfach auf. Es wird geschätzt, dass den Verdingkindern mit Zinsen ca. 3,7 Milliarden Franken gestohlen wurden.
Aber was erwartet man auch von einer Regierung, die sich bis heute nicht offiziell entschuldigt hat. Denn Entschuldigungen folgten auch nur vom schweizerischen Bauernverband und von einigen Ländern.

Bahar Güngör

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