Written by 11:03 HABERLER

Ein Vater sucht Gerechtigkeit

Halit-Yozgat

Der Prozess gegen die NSU vor dem Oberlandesgericht München jährt sich am 6. Mai. Und erneut steht der hessische Verfassungsschutzmann Temme, der beim Mord an Halit Yozgat praktisch dabei war, im Mittelpunkt des Prozesses. Obwohl er bereits fünf Mal vernommen wurde und trotzdem alles im Dunkeln lässt, bewahrt der Vater Ismail Yozgat seine Hoffnungen, dass der Mord an seinem Sohn doch noch vollständig aufgeklärt wird. Wann immer er kann, schreit er nach „Gerechtigkeit“ für seinen von der NSU ermordeten Sohn Halit. Nach jeder Gerichtsverhandlung sagt er den Journalisten immer das gleiche: „Am Ende wird was herauskommen. Ich vertraue dem Richter“. 

 

Ismail Yozgat ist ein leidender Vater. Sein Leid sieht man ihm sofort an, wenn er sich im Oberlandesgericht Raum „A101“ in der Nymphenburger Str. in München befindet. Dort nämlich wird der NSU-Prozess geführt. Manchmal schmettert er sein Leid ins Gesicht der Hauptangeklagten Beate Zschäpe, manchmal auch dem Verfassungsschutz-Mitarbeiter Temme… Wie könnte er auch still bleiben… Für ihn ist jede Fahrt von Kassel nach München, eine Hoffnung, auf die Antwort nach der Frage, wer der Mörder seines Sohnes ist. Das Leid des Ehepaares Yozgat ist nicht von der Art Leid, den man leicht ertragen oder gar vergessen kann. Die Beschreibung ist schwer.

Damit der 21-jährige arbeitslose Sohn einen Weg aus der Arbeitslosigkeit finden sollte, hatten die Eltern alle ihre Ersparnisse für ihren Sohn in ein Internetcafe in der Holland Str. in Kassel investiert. Vater, Mutter und Sohn arbeiteten abwechselnd in Schichten in dem Internetcafe. Hätten sie wissen können, dass dieses Internetcafe später der Treffpunkt ihres Sohnes mit dem Tod sein würde? Am 6. April 2006 gingen Vater und Mutter Yozgat in die Stadt, um ein Geburtstaggeschenk zu besorgen. Als sie um 17 Uhr 01 wieder im Internetcafe ankamen, fanden sie ihren Sohn hinter dem Tresen am Eingang, überall war Blut. Sie schrien um Hilfe.  Kunden, Nachbarn und Passanten kamen angelaufen. Aber es war zu spät. Halit zu retten, war nicht mehr möglich.

 

„Temme! Ich vertraue dir nicht!“

Nach Polizeiangaben wurde Halit Yozgat am 6. April 2006 zwischen 16.53 und 17.01 Uhr durch zwei maskierte Menschen mit einem gezielten Kopfschuss getötet. Die Mordwaffe ist bekannt: eine Ceska 83, 7.65 Kaliber. Zwei Tage zuvor wurde auch Mehmet Kubasik in Dortmund mit der gleichen Waffe ermordet. Nach ersten Ermittlungen gab die Polizei bekannt, dass sich in dem Internetcafe zur Tatzeit nicht fünf, sondern sechs Menschen befanden. Die sechste Person verließ sofort nach dem Mord das Cafe. Die Polizei fand heraus, dass die sechste Person Andreas Temme, Mitarbeiter des Verfassungsschutzes in Hessen war. Er wurde am 21. April 2006 vernommen. Zunächst gab Temme an, nicht am Tatort gewesen zu sein. Als später Beweise vorgelegt wurden, war er gezwungen, seine Anwesenheit am Tatort zuzugeben. Die Aussagen von Temme sind voller Widersprüche. Er saß bisher fünf Mal im Zeugenstand des Oberlandesgerichtes, kein einziges Mal konnte er irgendjemanden überzeugen. Jede Lüge brachte eine neue Lüge hervor, neue Widersprüche ersetzten alte.

In der 106. Gerichtsverhandlung am 15. April 2014 wurden Temme und Vater Yozgat zum ersten Mal miteinander konfrontiert. Vater Yozgat schrie alles, was in ihm wühlte, in Anwesenheit der Richter, Temme ins Gesicht. Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl schritt ein und sagte, dass er dies nur in Form einer Befragung erlauben könne. Temme wurde zum Zeugenstand gerufen, trotz Einspruchs des Bundesstaatsanwalts, der an Temmes Schuldlosigkeit glaubt.

Das war für die Eltern Yozgat natürlich ein schwieriger Moment. Sie hatten erfahren, dass ihr damaliger Stammkunde Andreas Temme ein Agent war und bei der Ermordung ihres Sohnes eine Rolle gespielt hatte. Wer war der Mörder und was war Temmes Rolle dabei: Den Schlüssel zu diesen Fragen hält er noch sehr stark in seiner Hand fest und erlaubt es nicht, die dunklen Zimmer zu öffnen und Licht in die Sache zu bringen. Vater Yozgat erzählte, dass Temme mindestens zwei Mal in der Woche im Internetcafe für je mindestens zwei Stunden im Internet war. In so einer Situation entwickelte sich zwischen Temme und der Familie eine gewisse Nähe. Sie erfuhren nie seinen richtigen Namen und seine berufliche Tätigkeit. Auch mit Halit hatte er einen guten Kontakt. Ins Internetcafe kam er stets alleine, nur einmal war eine Frau bei ihm. Stammkunden bedient man natürlich auch anders. Viele male spendierte die Familie ihm einen Tee oder Kaffee. Aus diesem Grund rief der Vater Yozgat sehr emotional: „Du erinnerst dich an gar nichts? Erinnerst du dich nicht einmal an den Tee, den wir dir spendiert haben, Temme?!“ Dass Temme während des Mordes im Internetcafe war, ist zweifelsfrei belegt, sagt Yozgat und auch, dass Temme ganz bewusst nicht nach seinem blutüberströmten Sohn geguckt hat. Auf sämtliche Fragen, die der wütende Vater stellte, antwortete Temme mit „Kann sein“ oder „Ich erinnere mich nicht“. Auf diese Antworten schrie der erregte Vater: „Ich vertraue dir nicht, Temme! Wie kannst du alles so einfach leugnen?“. Auch die Fragen der Anwälte, die sich auf die Widersprüche bezogen, blieben unbeantwortet.

Dass Temme im Vergleich zu den vorherigen Vernehmungen selbstbewusster und ruhiger wirkte, lässt die Interpretation zu, dass er für sich eine Klarheit gefasst hat. Als einer der Anwälte die direkte Frage stellte: „Haben Sie Halit Yozgat getötet?“ bekam er die kurze Antwort „Nein.“ erwidert. Dass der Mord von Temme begangen wurde, glaubt auch die Staatsanwaltschaft nicht. Aber ob er in Verbindung mit den Mördern stand, ob er eine Rolle bei der Planung hatte oder nicht, ist das große Geheimnis. Die Mutter von Halit sagt: „Er weiß etwas über die Mörder meines Sohnes.“ Bis die Antwort auf die Frage, warum Temme zur Mordzeit am Tatort war, geklärt wird, wird die Familie Temme nicht in Ruhe lassen. Denn die Widersprüche in seinen Aussagen, die Kontakte zu den Neonazis belegen, dass er nicht nur zufällig am Tatort war.

 

Vertrauen auf Gerechtigkeit?

Halit Yozgat ist das jüngste und vor allem das letzte Opfer der NSU. Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Tatsache, dass Temme sich zur Tatzeit am Tatort befand und dass Halit das letzte Opfer war? Leider kümmert sich das Gericht nicht um diese Frage. Denn, wenn es einen Zusammenhang gibt, ist es wahrscheinlich, dass Temme auch über die anderen Morde Informationen besitzt. Nach Mevlüde Genc, die 1993 bei dem Brandanschlag in Solingen zwei Töchter, zwei Enkelinnen und eine Nichte verlor, ist Ismail Yozgat zu einem weiteren Symbol für Menschen geworden, deren Kinder von Neonazis ermordet wurden. Ein Symbol für die Suche nach Gerechtigkeit. In offiziellen Gedenkveranstaltungen hat er gesprochen. Auf die Schadensersatzangebote des Staates sagte er: „Dieses Geld rühre ich nicht an.“ Seit einem Jahr kommt er immer mit eigenen Mitteln von Kassel nach München und sucht weiter nach Gerechtigkeit. Und er sagt: „Ich werde bis zum Ende weiter suchen.“ Obwohl seit Beginn des Prozesses ein Jahr vergangen ist, bereits so viele Zeugen gehört wurden ohne ersichtliche Fortschritte und der Hintergrund der NSU-Mörder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt bekannt ist, bewahrt er sich seine Hoffnung. „Das Ende wird gut. Ich vertraue dem Richter. Die Gerechtigkeit wird siegen.“, sagt er. Dass Temme nicht die Wahrheit sagt, davon ist Yozgat überzeugt. „Er verheimlicht irgendetwas. Ich sage nicht, dass er meinen Sohn ermordet hat. Aber er weiß viel darüber. Deswegen fordern wird, dass er sagt, was er weiß. Er kann sich nicht mit `weiß ich nicht´ und `ich erinnere mich nicht´ herausreden.“

 

Der Mord an Halit Yozgat ist „das schwächste Glied der NSU-Mordserie“ und wird wahrscheinlich zur vollständigen Aufklärung des NSU-Skandals beitragen können. Den Schlüssel hierfür hält der Verfassung“schützer“ Temme festin der Hand. Ob der Schlüssel zum Einsatz kommt und die Antworten auf die Fragen gefunden werden, liegt in der Hand des Gerichtes.

 

Yücel Özdemir

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