Kamil Tekin Sürek
Der Ministerpräsident hat mit einer prunkvollen Feier „Marmaray“ in den Dienst genommen. Die Inbetriebnahme des Eisenbahntunnels unter dem Bosporus nutzte er als ein weiteres Beispiel für die erfolgreiche Arbeit seiner Regierung, während nun in Medien behauptet wird, dass der Vertrag mit der ausführenden japanischen Baufirma schon zu Zeiten der Ecevit-Regierung im Jahre 2000 abgeschlossen worden sei.
Solche großen Bauprojekte überdauern meistens mehrere Regierungen. Auch der Bau der S-Bahn-Linie zwischen Taksim und Sariyer wurde von der Vorgängerin der AKP-Regierung gestartet und von der heutigen Regierung abgeschlossen. Genauso wie Marmaray diente auch dieses Projekt als Werbung für erfolgreiche Regierungsarbeit.
Solche Großprojekte mit gigantischem Finanzvolumen werden immer realisiert. Selbst in den ärmsten Staaten der Welt werden prunkvolle Großprojekte umgesetzt und überdauern mehrere Jahrhunderte. Die Könige, Sultane und Ministerpräsidenten, die sie in Auftrag gegeben haben, können sich damit rühmen. Die Bauwerke tragen dann ihre Namen und bleiben Jahrhunderte lang im Dienst. Hier stellt sich aber die Frage, welchen Nutzen das einfache Volk aus diesen großen Werken der Architektur ziehen kann. So kann man z.B. fragen, was die chinesische Mauer zur Zeit ihres Baus für das chinesische Volk bedeutete. Oder man könnte sich fragen, ob sich die Sklaven, die die Pyramiden im alten Ägypten bauten, über das Ergebnis ihrer Arbeit genauso sehr freuten, wie die Pharaonen selber. Sicherlich sollte man sich nicht gegen solche Werke als Beispiele großer Architektur- und Ingenieurskunst stellen. Die Frage sollte jedoch gestattet sein, ob sie wirklich auf Kosten von Menschenleben umgesetzt werden mussten. Auch bei den großen Bauprojekten unserer Zeit muss die Frage gestellt werden, wie es bei ihnen um das Kosten-Nutzen-Verhältnis auch für künftige Generationen bestellt ist.
Sicherlich wird der Marmaray-Tunnel einen gewissen Beitrag zur Lösung des Verkehrschaos in Istanbul beitragen. Er wird es aber nicht lösen. Und die Mautgebühren, die für seine Nutzung erhoben und hauptsächlich von den geringverdienenden Istanbulern entrichtet werden, werden einen größeren Beitrag dazu leisten, dass einige japanische Bauherren ihren Reichtum vergrößern können.
Dasselbe gilt für die geplante dritte Brücke über dem Bosporus. Da werden Kredite aufgenommen, Großprojekte realisiert und Jahrzehnte lang die Schulden getilgt. Ist das der einzige gangbare Weg? Kann man nicht kleinere Projekte planen, sie Stück für Stück umsetzen und anschließend zu einem Großprojekt bündeln, ohne Kredite aufnehmen zu müssen?
Ist es nicht sinnvoller, Projekte umzusetzen, die den Anstieg der Einwohner Istanbuls und somit die Vermehrung bestehender Probleme verhindern könnten? Kann es eine grenzenlose Stadt geben? Ist eine Stadt mit 17 Mio. Einwohnern, die im Herzen eines Erdbebengebiets liegt und die in den letzten Jahren jedes Jahr um eine weitere Million Einwohner wuchs, mit dem Menschenverstand vereinbar?
Der Ministerpräsident plant die Erweiterung von Istanbul durch den Aufbau neuer Nachbarstädte an seinen Grenzen. Wenn er nicht aufgehalten wird, wird er das auch umsetzen. Er wird sich damit rühmen, dass Istanbul zu der weltweit größten Stadt geworden ist. Und danach? Wie soll denn die größte Stadt der Welt am Leben bleiben? Wie sollen die damit verbundenen Megaaufgaben wie Verkehr, Versorgung etc. gelöst werden?
Auf diese Fragen gibt er keine Antwort! Mit Demagogie und Populismus bekämpft er die Gegenstimmen, die wissenschaftliche Fakten auf den Tisch legen. Und seine einzige Lösung scheint derzeit zu sein, in „Allah zu vertrauen“. Na dann, Allah möge uns vor dem Schlimmsten beschützen.