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Europa muss die Sicht auf die AKP überdenken

Die aktuelle politische und wirtschaftliche Lage in der Türkei war das Thema einer Anhörung, die am 30. März 2012 von der Bundestagsfraktion DIE LINKE im Anhörungssaal des Deutschen Bundestages stattfand. Referenten der Anhörung, die die Frage „Quo vadis, Türkei?“ aufwarf, waren die beiden Parlamentarier Selahattin Demirtas und Levent Tüzel, der Gewerkschafter Mustafa Türkel, die Journalistin Sultan Özer und Ercan Gecmez von der alevitischen Gemeinde. Zahlreiche Zuhörer und auch Bundestagsabgeordnete der Linken suchten in der fünfstündigen Veranstaltung Antworten auf ihre Fragen. Deutlich wurde in den Diskussionsrunden, dass das in den deutschen Medien gemalte Türkei-Bild nicht die Realität wiedergibt. Die aus der Anhörung gewonnenen Erkenntnisse sollen in die parlamentarische Arbeit der Linksfraktion einfließen.

Eröffnet wurde die Anhörung mit einer Rede des Fraktionsvorsitzenden Gregor Gysi. Er wies auf die Zusammenarbeit seiner Fraktion bzw. Partei mit den demokratischen Kräften sowie der kurdischen Bevölkerung in der Türkei hin. Die Bundesregierung verfolge im Hinblick auf die Türkei eine einseitige Politik, die sie lediglich auf die Informationen aus türkischen Regierungskreisen stütze. Gysi ging auch auf die EU-Beitrittsverhandlungen der Türkei ein, die in letzter Zeit bekanntlich ins Stocken geraten seien. In seiner Fraktion seien im Bezug auf die EU-Mitgliedschaft der Türkei verschiedene Meinungen vertreten. Er verspreche sich von der Anhörung Denkanstöße, die seine Fraktion zu einem einheitlichen Meinungsbild verhelfen könnten.

Die Sprecherin für Internationale Beziehungen der Linksfraktion, Sevim Dagdelen, wies in ihrem Einführungsstatement ebenfalls auf das Türkei-Bild in deutschen Medien und Politikerköpfen hin. Sie beklagte das Informationsdefizit in Deutschland, das im Hinblick auf die verschiedenen sozialen Kämpfe in der Türkei herrsche. Die Anhörung verfolge das Ziel, die mit diesen Kräften bestehenden Kontakte und solidarische Zusammenarbeit zu vertiefen. „Die Zusammenarbeit der Bundesregierung mit der Regierung Erdogans führt dazu, dass die deutsche Öffentlichkeit von den sozialen Kämpfen, den Repressionen gegen die demokratische Opposition oder der neoliberalen Wirtschaftspolitik in der Türkei kaum Notiz nimmt. Mit unserer Veranstaltung möchten wir dazu beitragen, diese Desinformationspolitik zu überwinden“, so Dagdelen.

In der ersten Diskussionsrunde, die der Innen- und Wirtschaftspolitik gewidmet war, berichteten die Referenten aus ihren Arbeitsbereichen. Die Vertreterin der Journalistengewerkschaft TGS, Sultan Özer, wies auf die in den letzten Jahren stärker werdenden Repressionen und die über 100 inhaftierten Journalisten hin. Der Vorsitzende von Tekgida-Is, Mustafa Türkel, berichtete von den Schwierigkeiten der Gewerkschaften und ihrer Mitglieder. Jegliche gewerkschaftliche Opposition werde mit Polizeigewalt im Keim erstickt. Die Entwicklungen seien aber auch die unmittelbare Folge einer neoliberalen Politik, die im Einklang mit den Forderungen der EU stünden. Der Vorsitzende der Haci Bektas Kulturstiftung, Ercan Gecmez, warf der AKP-Regierung Unterdrückung von Aleviten vor. Sie würde Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht umsetzen, wonach alevitische Kinder vom Besuch des Religionsunterrichts befreit werden müssten.

Der fraktionslose Abgeordnete Levent Tüzel, der im türkischen Parlament den „Demokratischen Kongress der Völker“ vertritt, berichtete von den Bemühungen, weite Teile der sozialen Bewegungen zu vereinen. Das Wahlbündnis für Arbeit, Demokratie und Frieden setze seine Arbeit fort und umfasse heute rund doppelt so viele Organisationen, Gruppen und Initiativen, wie zu Beginn seiner Arbeit. Die demokratische Öffentlichkeit in Deutschland rief er zur Solidarität auf. Die Politik der Erdogan-Regierung bezeichnete er als die Fortsetzung der Militärjunta mit zivilen Mitteln.

Der Vorsitzende der BDP und ihrer Fraktion im türkischen Parlament, Selahattin Demirtaş kritisierte die EU, die mit ihrer Politik die türkische Regierung unterstütze und bei ihrer Unterdrückungspolitik gegen die Kurden und demokratische Opposition ermutige. Die EU sei auf die Türkei angewiesen, die sie als Modellstaat für die anderen Länder in der Region anpreise. Die Menschenrechte setze sie als Verhandlungsmasse ein. „In der EU festigt sich die Wahrnehmung, dass die kurdische Frage gelöst sei. Diese Propaganda müssen wir gemeinsam verhindern“, so Demirtas.

Die Gäste aus der Türkei kamen auch mit Mitgliedern der Deutsch-Türkischen Parlamentariergruppe zusammen. Bei ihrem Treffen mit den Vertreterinnen der Linksfraktion Sevim Dağdelen und Katrin Werner, sowie mit Memet Kılıç (B90/Grüne)) und Uta Zapf (SPD) tauschten sie sich über die aktuelle Situation aus.

Am Abend nahmen sie an einer Informationsveranstaltung teil, die von den Berliner Mitgliedsvereinen von DİDF, YEK-KOM und AGİF gemeinsam organisiert wurde. Auch hier riefen sie die über 500 Zuhörer zur praktischen Solidarität mit den demokratischen Kräften in der Türkei auf. Die Migranten aus der Türkei über die Arbeit des Demokratischen Kongresses der Völker zu informieren, würde einen wichtigen Beitrag dazu leisten, den Einfluss der Erdogan-Regierung in Deutschland zurückzudrängen.

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