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Grenzenlos

Alev Bahadir

Grundsätzlich treten wir in unseren Artikeln für Öffnungen von Grenzen ein. Doch was ist, wenn gefährliche Grenzen im Kopf überschritten werden?

Kurz vor dem Bundesparteitag der Alternativen für Deutschland (AfD) und wegen aktuellen Umfragen, die den Einzug der AfD in den Bundestag mit ca. 10 % vorhersagen, stellt sich immer wieder die Frage: Wie kommt es, dass die Gesellschaft augenscheinlich immer mehr nach rechts rückt?

Das Etablieren von rechten Gedanken sowie die Absenkung der gesellschaftspolitischen Hemmschwellen wurden bereits lange vor dem Erscheinen der rechten AfD auf der politischen Bühne begonnen. Diese Tür wurde von niemand anderem als dem ehemaligen Finanzsenator Berlins und SPD-Mitglied, Thilo Sarrazin, geöffnet. Sarrazin hatte bereits länger mit seinen mehr als fragwürdigen Thesen, die systematisch vor allem Muslime und sozio-ökonomisch schlechter gestellte Menschen herabwürdigt, für Aufsehen gesorgt. Doch als er 2010 sein Buch „Deutschland schafft sich ab“ veröffentlichte – das den Supergau in der sozialdarwinistischen Pseudowissenschaft bildet – schieden sich die Geister. Parteien, Medien und Bürger zeigten sich entsetzt von Sarrazin Behauptung, dass Muslime integrationsunwillig seien („Aber wir wollen keine nationalen Minderheiten. Wer Türke oder Araber bleiben will und dies auch für seine Kinder möchte, der ist in seinem Herkunftsland besser aufgehoben. Und wer vor allem an den Segnungen des deutschen Sozialstaats interessiert ist, der ist bei uns schon gar nicht willkommen“). Und auch an Arbeitslosen lässt Sarrazin kein gutes Haar, behauptet sie seien selbst an ihrer Lage Schuld: „Aus den bereits beschriebenen Gründen treibt ein relativ hohes garantiertes Grundeinkommen diese weniger Leistungsstarken in die Nichtbeschäftigung und bindet sie dort“. Doch passierte auch etwas, das viele nicht erwartet hätten. Es gab auch Zuspruch für Sarrazin, sogar großen Zuspruch. Plötzlich hörte man aus vielen Mündern Sätze, wie: „Eigentlich hat er doch recht, er hat es nur zu hart ausgedrückt“ oder „Endlich traut sich mal jemand, die Wahrheit zu sagen“. Doch stellt sich die Frage: von welcher Wahrheit wird hier gesprochen? Dass Muslime gar nicht in der Lage seien, sich zu integrieren? Dass Arbeitslosigkeit selbstverschuldet sei? Dass diejenigen, die davon betroffen sind, die „weniger Leistungsstarken“ sind? Sarrazin benutzte bereits 2010 ähnliche leichtgestrickte „Wahrheiten“, wie die AfD heute. Zwar lehnte ein Großteil der Politik seine Meinung ab, doch wurde trotzdem plötzlich über „Fachkräfte“ in der Einwanderung diskutiert.

Sarrazin veröffentlichte danach noch weitere umstrittene Bücher, die zwar Kassenschlager waren, aber nicht mehr die gleiche Beachtung fanden, wie „Deutschland schafft sich ab“. Doch das Werk war bereits getan. Die Tür ist sperrangelweit offen. Die Grenze hin zu rechten Gedanken hat sich weit in die Mitte verschoben. Spätestens mit der Ankunft hunderttausender Flüchtlinge im Sommer 2015 in Deutschland hat diese sogar ihren Höhepunkt gefunden. Denn es waren nicht länger Menschen, wie Sarrazin, von denen man sich leicht distanzieren konnte. Plötzlich gab es die AfD, die breiten Zuspruch bekam und es schien, als würde eine Pegida-Ablegerorganisation nach der anderen wie Pilze aus dem Boden wachsen. Die Medien hetzten genauso gegen Flüchtlinge, wie auch Teile der etablierten Parteien. Während sich die wenigsten mit Sarrazins Ideen öffentlichkeitswirksam anfreunden konnten, können viele tausend potentielle Wähler nicht so einfach ignoriert werden. Auch die Parteien rückten spürbar nach rechts. Wo Medien und Parteien ansetzen, lässt Ottonormalbürger nicht lange auf sich warten. Aussagen, die sich so gut wie keiner vor einigen Jahren noch laut auszusprechen gewagt hätte, sind mittlerweile total normal.

Besonders stark kann man diese Entwicklung in sozialen Netzwerken beobachten. Die Anonymität des Internets lässt bei vielen jegliche Hemmungen fallen. „Judenschwein“ und andere Beleidigungen sind gar nicht mehr so selten auf Facebook und co. Die Tatsache, dass jene Menschen sogar noch von zahlreichen anderen Usern Zuspruch für hasserfüllte Kommentare bekommen, bestärkt viele noch darin, dieses Vorgehen in die echte Welt zu übertragen. Diese gesamte Entwicklung wird natürlich auch auf die Erziehung und Sozialisierung von Kindern übertragen. Auch bei vielen jungen Menschen kann man eine gewisse Abgestumpftheit, fehlende Hemmungen und mangelnde Empathiefähigkeit beobachten. Nimmt man z.B. den Umgang mit dem Hitler-Faschismus: Das Thema ist schon lange eines der am meisten behandelten Themen im Schulunterricht. Doch immer öfter hört man auch hier: „Warum reden wir eigentlich schon wieder darüber. Ist doch nicht meine Schuld“. Natürlich können Jugendliche nichts dafür, was vor über 80 Jahren hier in Deutschland passiert ist. Doch fehlt der Wille, zu erkennen, dass es bei der Thematisierung von Faschismus und Krieg nicht um eine Schuldfrage, sondern um das Gedenken und Ermahnen an das schlimmste Verbrechen der Menschheit geht. Doch lieber wird das Thema ganz von sich gewiesen, nebenbei noch ein paar unpassende Judenwitze gerissen und bei Ausflügen in KZ-Gedenkstätten im Minirock vor dem Stacheldrahtzaun oder dem Verbrennungsofen für ein Selfie posiert. Klingt grausam und morbide? Passiert aber leider tatsächlich.

Aber wie sollte man Jugendlichen einen Vorwurf machen, wenn sie nur das leben, was sie in den Medien, sozialen Netzwerken und von Politikern sehen? Wenn sie sehen, dass Erwachsene auch so handeln und reden und es scheinbar ok ist. Natürlich kann man nicht von einer Faschisierung der Gesellschaft reden, das würde (noch?) viel zu weit gehen. Doch wissen wir aus der Geschichte, dass gerade das Etablieren von Rechtspopulismus sehr schnell umschlagen kann. Es ist nicht länger „nur“ ein Sarrazin, der bei Maischberger erklärt, dass er das Einreiseverbot für Muslime viel besser durchgesetzt hätte, als Donald Trump, diesem aber gleichzeitig eine „friedensstiftende“ Wirkung anerkennt. Es ist eine Gesellschaft, die damit droht, die Lösung ihrer sozialen Probleme im Rassismus zu suchen. Deshalb ist es umso entscheidender sowohl gegen Rechte, wie die AfD einzustehen, als auch gleichzeitig Seite an Seite für die tatsächliche Lösung der sozialen Probleme zu kämpfen.

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