Die Relativitätstheorie von Einstein besagt, dass die Zeit nicht für jedes Ereignis gleich schnell fließt. Wenn man sie auf die Politik anwendet, könnte man sagen, dass die Zeit nicht für jede Partei, jedes politische Ereignis und selbst für jede politische „Figur“ gleich schnell fließt.
In diesen Tagen fließt die Zeit sehr schnell für Erdoğan und die AKP-Regierung. Aus der Sicht der AKP passieren aktuell Dinge, die sich bei einem „normalen Fluß“ der Zeit in mehreren Jahren ereignen würden, innerhalb weniger Tage.
In solch „schnell fließenden Zeiten“ verwandeln sich klassische „Erklärungsmuster“ zu „Wunschäußerungen“ und Meinungsumfragen, die innerhalb von wenigen Tagen zu hochaktuellen Themen gemacht werden, bieten keine Grundlage dafür, die Realität zu verstehen. Deshalb erscheinen die Ereignisse als „Pech“, „Verschwörung“ oder „Schicksalsschläge“.
Dabei sind sie Zeichen dafür, dass ein bestimmter Prozess sein Heranreifen abgeschlossen und ein bestimmtes Nivea erreicht hat, dass eine neue Ära eingeleitet worden ist, die von neuen Prozessen und Fakten bestimmt wird.
Aktuell durchleben wir eine Zeit, die aus der Sicht des „ewigen Führers“ mit einem hohen Tempo fließt. Deshalb passieren Dinge, die alle ins Staunen versetzen. Der Streit Erdogans mit seinem Vize Arınç, der bis dato alles mit größter Geduld über sich ergehen ließ, ist in dieser Kategorie einzuordnen. Ebenso der Zoff mit der Gülen-Bewegung, der einen Tag nach dem Glätten der Wogen mit Arinc ausgebrochen ist.
Auslöser des Letzteren war ein Bericht in der Zeitung „Zaman“, der die Überschrift „Schlag gegen das Bildungssystem“ trug. In einer Reihe von weiteren Berichten warf die als Sprachrohr der Gülen-Bewegung bekannte Zeitung Erdogan vor, er wolle die privaten Nachhilfekurse verbieten. Die AKP-Regierung habe dazu einen Gesetzentwurf ausgearbeitet. Die vom Bildungsminister veröffentlichten Dokumente wurden von der Zeitung als „Belege einer schwarzen Propaganda“ gegen die Gülen-Bewegung, die nicht einmal in den Jahren der Militärjunta so viel Unterdrückung erfahren habe wie jetzt, in der Luft zerrissen.
In den letzten zwei Jahren wurden immer wieder Gerüchte in Umlauf gebracht, dass die AKP-Regierung die heute im Focus des Streits stehenden privaten Nachhilfekurse schließen bzw. in Privatschulen umwandeln wolle. Die Gülen-Bewegung, die zahlreiche Nachhilfekurse betreibt und eine Vormachtstellung in diesem Bereich hat, sieht in dem Gesetzentwurf der Regierung einen Angriff gegen sich.
Bei diesem Konflikt erwecken beide Seiten den Eindruck, als würde es ihnen um ein besseres Bildungssystem gehen. Für die Regierung stellen die Kurse lediglich eine Einnahme- und Ausbeutungsquelle dar und leisten zur Verbesserung des Bildungssystems keinen Beitrag. Für die Gülen-Gemeinde hingegen leisten sie einen großen Beitrag dazu und sind bezüglich des Rechts auf freie Bildung und der freien Marktwirtschaft unverzichtbar.
Dabei wird außer Acht gelassen, dass es bei den Problemen des Bildungssystems nicht um die Frage der Nachhilfekurse geht. Und für diese kann man sich weder aus Sicht des Rechts auf freie Bildung, noch unter dem Aspekt der freien Marktwirtschaft einsetzen. Und auch bei dem jetzt ausgebrochenen Streit geht es weder um diese Freiheit, noch ausschließlich um Profit.
Diese boomende Branche hat mittlerweile einen jährlichen Gesamtumsatz von ca. 2 Mrd. Lira erreicht. Und die Gülen-Gemeinde, der rund 20 Prozent der Kurse gehört, erzielt einen Jahresumsatz von 600-700 Mio. Lira. Sie sind aber auch Sammelstellen für Jugendliche, aus denen sie ihren Nachwuchs rekrutiert. Deshalb sind diese Kurse für die Gemeinde lebenswichtig. Ihre Schließung käme einem Todesstoß gleich.
Es ist bekannt, dass die AKP-Regierung seit längerer Zeit im Streit mit der Gülen-Bewegung steht und jede Gelegenheit nutzt, ihren Einfluss zurückzudrängen. Die geplante Schließung der Kurse soll jetzt ein weiterer Schritt in dieser Richtung sein.
Es geht hier also um einen Machtkampf. Der dafür ausgewählte Zeitpunkt ist zwar nicht mit dem herrschenden „Zeitgeist“ zu erklären, aber bestimmt damit, dass die Austragung vorhandener Interessenskonflikte nicht länger verschoben werden kann.
İhsan Çaralan