Sebastian Durben
Sonntagmorgen, 10:30 Uhr. In einem kleinen Café in der Kölner Innenstadt treffe ich mich mit einer Freundin und Studienkollegin Meltem*. Sie studiert wie ich Soziologie und wir wollen zusammen für die nächste Klausur lernen. Das Thema: Bildungsungerechtigkeit in Deutschland. Wir schauen uns die Statistiken an, nach denen jeder achte Schüler ohne deutschen Pass keinen Abschluss schafft. Wir lesen Texte darüber, dass das Versprechen vom sogenannten „Aufstieg durch Bildung“ in Deutschland nur ein Mythos ist und studieren die Zahlen, die besagen, dass es vom Geldbeutel der Eltern abhängt, wie schwierig oder leicht es ihre Kinder in der Schule haben.
„Ist ja auch klar“, werfe ich ein, „wer genug Geld hat, kann sich im Zweifel teure, private Nachhilfestunden leisten oder sein Kind auf Lernreisen schicken“. Meltem nickt nachdenklich und nippt dabei an ihrem Kaffee. „Weißt du, das ist nicht alles. Da ist noch so viel mehr“ sagt sie langsam. Wenn ich so darüber nachdenke, weiß ich eigentlich reichlich wenig darüber – von den Statistiken, Texten und Zahlen einmal abgesehen. Aufgewachsen bin ich in auf dem wohlbehüteten Dorf, die Mutter Lehrerin, der Vater bei der Bahn. Ich hatte Großeltern, die auf mich aufpassen konnten, wenn meine Eltern arbeiten waren und die mir bei den Hausaufgaben halfen. Abends lernte meine Mutter manchmal mit mir sogar für die nächste Klassenarbeit und wenn ich mal nicht weiter wusste, konnte ich sie um Hilfe fragen. Es passt, wie ich gelernt habe, zu den Statistiken der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung nach denen 7 von 10 Kindern, deren Eltern das Abitur erreicht haben, selbst das Abitur erreichen. Dagegen schaffen nur 3 von 10 Kindern das Abitur von Eltern mit anderem Bildungsabschluss. Der Abschluss wird demnach genauso vererbt, wie Reichtum oder Armut. Es zählt nicht, was du kannst, sondern nur, aus welchem Elternhaus du kommst – und welches Geschlecht du hast. Mädchen haben im Schnitt einen höheren Abschluss als Jungs und dennoch haben sie nach der Schule die schlechteren Jobs und verdienen weniger Geld.
All das habe ich für die anstehende Soziologie-Klausur gelernt aber erlebt habe ich es nicht. Ich weiß nicht, wie es sich anfühlt. Als Meltem in ihrer Nachdenklichkeit beginnt, ihre eigene Geschichte zu erzählen, höre ich deswegen umso aufmerksamer zu, wie aus den auswendig gelernten Zahlen, Statistiken und Texten, reale Menschen mit realen Schicksalen werden. Einzelne Teile davon habe ich schon einmal gehört: Dass sie aus einer Arbeiterfamilie kommt, 2. Generation türkischer Einwanderer, Hauptschule, Realschule, dann Abi und jetzt Studium. Aber aus all diesen Puzzelstücken wird mit dem, was sie mir dann zu erzählen begann, ein klares Bild einer zutiefst kämpferischen jungen Frau.
Sie erzählt mir davon, wie es ist, wenn du nicht im teuren Reichenviertel Köln-Marienburg, sondern in von Armut und Arbeitslosigkeit geplagten Kölner Stadtteil Chorweiler aufwächst. Wie es ist, wenn du schon früh arbeiten gehen musst und weder Zeit noch Geld hast, um Klavierunterricht zu nehmen oder Tennis zu spielen. Wie es ist, wenn die Lehrerinnen und Lehrer dich von der Grundschule an spüren lassen, was sie denken: Dass du nicht dazu gehörst und aus dir eh nichts werden wird. Es ist wie eine selbsterfüllende Prophezeiung. Wenn alle dir sagen, dass du es nicht schaffen wirst, weil du aus einem Arbeiterviertel kommst und obendrein noch keine „biodeutschen“ Eltern hast. Wenn kein Geld da ist, um auf die Klassenfahrt nach Rom mitfahren zu können oder beim Englandaustausch mitzumachen. Wenn du arbeiten musst, während andere Nachhilfestunden in Physik bekommen. Dann sind die schier unüberwindbaren Steine, die du aus dem Weg räumen musst, deutlich größer und zahlreicher als bei manchen deiner Klassenkameraden. „Mein Grundschullehrer hat mir nur eine Empfehlung für die Hauptschule gegeben, obwohl meine Noten auch für die Realschule gereicht hätten. Dort hat dann niemand gedacht, dass ich heute einmal mit dir hier sitzen und für eine Klausur an der Universität lernen würde. Wenn es nach ihnen gegangen wäre, wäre ich mit 14 ohne Abschluss von der Schule und hätte eine Ausbildung angefangen.“ Sie erzählt mir von Nenad aus Köln-Porz, der gerade das Land NRW auf Schadensersatz verklagt, weil er im Schulalter trotz einem festgestellten IQ von 100 von den zuständigen Lehrern als geistig behindert eingestuft und zwangsweise auf eine Förderschule gesteckt wurde. Von Rachid, der tatsächlich die Schule ohne Abschluss verlassen musste, keine Arbeit fand und sich seitdem mit Gelegenheitsjobs über Wasser hält. „Ich kenne Rachid schon mein ganzen Leben. Er ist nicht dumm. Wäre er mit deinen Eltern in deinem Dorf groß geworden, er hätte mindestens einen Realschulabschluss gemacht und würde jetzt in irgendeinem Bürojob sitzen und gutes Geld verdienen“, ist sie überzeugt.
Meltem kann viele solcher Geschichten erzählen. Alle eint das: Die soziale Klasse, die Herkunft und das Geschlecht beeinflussen deine Bildungschancen nicht nur, sie bestimmen zu weilen deinen Weg, ohne dass du etwas dafür kannst.
Was sie denkt, warum das so sei, frage ich sie nach einer längeren Pause des Schweigens. Erst zögert sie, dann antwortet sie entschieden: „Weil wir in einem System von Gewinnern und Verlierern leben. Überall, wo es Gewinner, wo es Reiche gibt, muss es Verlierer, muss es Arme geben. Allerdings sind die Karten nicht fair verteilt und so steht vorher schon fest, wer gewinnt und wer verliert.“
Ich nicke zustimmend. Wie sie es dann geschafft habe, trotzdem zu gewinnen, frage ich sie weiter.
„Weil ich Freundinnen und Freunde hatte, die mir geholfen haben. Weil ich irgendwann gelernt habe, was man in der Schule bei all der Konkurrenz nicht lernt: Dass wir zusammen stärker sind als wenn jeder für sich alleine kämpft. Ich will in einer Welt leben, wo es egal ist, woher du kommst. Wo alle ein gutes Leben haben können und sich keine Sorgen machen müssen, wie es im nächsten Monat weitergehen soll. Wo niemand die Schule ohne Abschluss und ohne Arbeitsplatz verlassen muss. Deswegen studiere ich jetzt, um anderen zu helfen und gemeinsam mit ihnen zu kämpfen, sodass niemand mehr kämpfen muss.“
Als wir gemeinsam etwas später zur Klausur gehen, merke ich, dass ich von ihrer Erzählung mehr gelernt habe, als durch alle Texte, Statistiken und Zahlen gemeinsam.
*Alle in diesem Text geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären zufällig und nicht beabsichtigt.