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Islamistischer Anschlag und die deutsche Migrationspolitik

Oktay Demirel

Im Vorfeld einer Anti-Islam-Kundgebung der rechtspopulistischen „Bürgerbewegung Pax Europa“ kam es am 7. Juni auf dem Mannheimer Marktplatz zu einer schweren Messerattacke. Ein afghanischer 25-jähriger Mann verletzte sechs Menschen, darunter den rechtsradikalen Islamhasser Michael Stürzenberger und einen Polizisten, der einen Tag später seiner Verletzung am Hals erlag. Der Täter konnte von anderen Polizisten durch einen Schuss aufgehalten werden. Ein Haftbefehl ist bereits erlassen worden.

Hätte der Anschlag verhindert werden können? Vermutlich nicht, denn es handelt sich um einen nicht organisierten Täter, der sich im privaten radikalisierte und nicht polizeilich bekannt war. Jedoch bietet diese entsetzliche Messerattacke neuen Nährboden für rassistische Ideen und Vorurteile. In verschiedenen Foren wird die Attacke genutzt, um Angst in der Bevölkerung vor einer “Islamisierung” zu schüren und das Thema Migration erneut als die Mutter aller Probleme darzustellen. Der Anschlag hat die deutsche Gesellschaft erschüttert und eine erneute Debatte über Integration, Migration und Abschiebungen entfacht. Das starke Abschneiden der AfD und der konservativen CDU bei den EU- und Kommunalwahlen in einigen Bundesländern wird sicherlich auch damit zusammenhängen, dass dieser Anschlag zeitnah zu den Wahlen stattfand und vorhandene Unzufriedenheit kanalisierte.

Deutsche Einwanderungsziele

Nach dem Anschlag wurde schnell die Frage nach der Effektivität der Integrationspolitik in Deutschland laut. Kritiker argumentieren, dass die bestehenden Programme nicht ausreichend sind, um eine wirkliche Integration zu gewährleisten. Sie fordern strengere Maßnahmen und eine konsequentere Durchsetzung der Gesetze. Andere gehen weiter und wollen Migration nach Europa und Deutschland komplett unterbinden. Durch populistische Stimmungsmache werden politisch motivierte Taten islamistischer Terroristen einer gesamten Bevölkerungsgruppe zugeordnet und die Wahrheit verzerrt. Oft steht die deutsche Migrationspolitik im Spannungsfeld zwischen der Anwerbung qualifizierter Fachkräfte und der Wahrnehmung von Migranten als Sicherheitsrisiko oder wirtschaftliche Belastung. Dieser Widerspruch spiegelt tief verwurzelte gesellschaftliche Debatten wider und beeinflusst die Gestaltung von Einwanderungs- und Integrationsstrategien. Deutschland steht aufgrund seiner demographischen Entwicklung vor einem erheblichen Fachkräftemangel. Eine alternde Bevölkerung und sinkende Geburtenraten führen dazu, dass immer weniger Arbeitskräfte zur Verfügung stehen. Um diesen Mangel zu kompensieren, hat die Bundesregierung verschiedene Maßnahmen ergriffen, um qualifizierte Fachkräfte aus dem Ausland zu gewinnen. Mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz, das 2020 in Kraft trat, wurden die Hürden für qualifizierte Fachkräfte aus Nicht-EU-Ländern gesenkt. Ziel ist es, gut ausgebildete Arbeitskräfte in den deutschen Arbeitsmarkt zu integrieren und so die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft zu sichern. So sind Anwerbeabkommen mit Kenia, Kirgistan, Nigeria oder Kolumbien beschlossen worden oder in der Planung.

Die Mär von nützlichen und unnützen Migranten

Doch neben der Anwerbung qualifizierter Fachkräfte gibt es auch eine signifikante Anzahl von Migranten, die als Geflüchtete oder aus anderen humanitären Gründen nach Deutschland kamen. Diese Gruppe wird häufig als wirtschaftliche Belastung wahrgenommen, besonders, wenn sie aufgrund der Gesetzeslage keinen direkten Zugang zum Arbeitsmarkt findet. Während hochqualifizierte Fachkräfte als Bereicherung gesehen werden, stoßen weniger qualifizierte Migranten auf Skepsis und Ablehnung. Diese Wahrnehmung führt zu sozialer Polarisierung und Fremdenfeindlichkeit, politische Parteien nutzen die Thematik häufig, um strengere Einwanderungs- und Abschieberegelungen zu fordern. Begünstigt wird das Ganze, wenn sogar vermeintlich linke oder progressive Parteien wie die Grünen oder die SPD sich in das Chor der unnützlichen Migranten einsingen und “massenhafte Abschiebungen” fordern. “Remigration” (AfD) oder “Rückführungs-Verbesserungsgesetz” (Ampel-Regierung) werden nur mit anderen Buchstaben geschrieben, tragen aber den gleichen Inhalt.

Ohne Migration gibt es keine menschliche Gesellschaft

Wir leben in einer Migrationsgesellschaft. Migration gab es schon immer und wird es auch in Zukunft geben. Nicht sie ist die „Mutter aller Probleme“, sondern wachsende soziale Ungleichheiten, prekäre Arbeitsverhältnisse, Altersarmut, Wohnungsnot und mangelnde Infrastruktur betreffen große Teile der Gesellschaft und führen zu Zukunfts- und Existenzängsten, die man damit zu kompensieren versucht, in dem man nach unten tritt. Die Ursachen der sozialen Schieflage liegen in der extrem ungleichen Verteilung von Reichtum und Wohlstand, in Rotstift- und Sparpolitik und chronischer Unterfinanzierung der Kommunen. Abschiebung, Entmenschlichung und Abschottung verhindern den gesellschaftlichen Rechtsruck nicht, sondern befeuern ihn sogar noch mehr. Populistische Versprechen, „einfache Lösungen“ und das Spiel mit Stereotypen sind Wasser auf die Mühlen antidemokratischer Kräfte.

Die deutsche Wirtschaft und Gesellschaft braucht Fachkräfte? Ja! Schutzsuchende? Nein! Das unwürdige Spalten in „nützliche“ und „nicht nützliche“ Menschen ist, nicht nur in Deutschland- tief in die europäische Gesellschaft eingeschrieben. Das Ergebnis ist struktureller Rassismus, der in vielen Bereichen wie Bildung, Arbeitsmarktzugang, Gesundheitsversorgung und Wohnungssuche Gleichbehandlung verhindert und auf der anderen Seite zu Parallelgesellschaften führt.

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