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Kriminalisierung von Sozialprotesten

Ulla Jelpke*
„Wir zahlen nicht für eure Krise“  und „Die Krise heißt Kapitalismus“ unter diesen Losungen demonstrierten am Samstag 12. Juni in Berlin und Stuttgart Zehntausende Menschen – darunter Gewerkschafter, Mitglieder der Linken, Kommunisten und Autonome – gegen die Sparpakete der Bundesregierung auf Kosten der abhängig Beschäftigten. Bis zum frühen Abend standen die Inhalte dieser friedlichen Proteste im Vordergrund der Medienberichterstattung. Dann änderte sich der Tenor der Berichterstattung schlagartig. Die Agentur dpa meldet um 18.27 Uhr, dass zwei Polizeibeamte in Berlin durch einen explosiven Stoff schwer verletzt worden seien. Die in der Nähe des Antikapitalistischen Blocks linksradikaler Gruppen auf die Polizei geworfenen Böller dominierten nun die weitere Berichterstattung über die sozialen Proteste. Dabei war der Vorfall auf halber Strecke der Demonstration bis zur Abschlusskundgebung in den Augen der Polizei offenbar nicht einmal relevant genug, um ihn gegenüber dem Versammlungsleiter anzusprechen.
Während sich die Polizei in ihrer Pressemeldung am folgenden Tag in der Einschätzung des Vorfalls noch zurückhielt, wusste die Springerpresse sofort, dass es sich um eine möglicherweise mit Nägeln oder Glasscherben gefüllte „Splitterbombe“ gehandelt habe. „Bombenanschlag auf Polizisten“ titelte die BILD am Montag und Berlins Innensenator Ehrhart Körting (SPD) verurteilt den Wurf einer „Splitterbombe“, für deren Existenz weiterhin keine Beweise vorlagen. Gegenüber der Berliner Zeitung vom Dienstag bestätigte ein Polizeisprecher, dass definitiv kein Metall oder Glas verwendet wurde – doch die Springerpresse und dpa sprachen weiter von einer „Splitterbombe“. Am Mittwoch Vormittag schließt auch ein Sprecher der Berliner Staatsanwaltschaft gegenüber der taz aus, dass es sich um eine Splitterbombe gehandelt hat.
Dies hindert CSU-Innenexperten Hans-Peter Uhl nicht daran, am Mittwoch Nachmittag bei einer von den Regierungsfraktionen beantragten aktuellen Stunde im Bundestag zum Thema „Linksextremismus“ zu behaupten: „Es wurden Splitterbomben zum Einsatz gebracht, die mit Eisenteilen gespickt waren und perfiderweise auch noch in eine Plastikhülle gesteckt waren, damit sie sich – wenn sie zum Brand kommen – festkleben auf der Uniform und die Uniform durchringen.“ Diese Gewalt habe es in den letzten Jahren in Deutschland nicht gegeben.
Obwohl weder der Typ des Böllers feststand, noch ein Täter gefasst wurde, beschuldigten Regierungspolitiker die Linkspartei und sogar die Gewerkschaft ver.di einer Mitverantwortung. „Hans-Peter Uhl sah die Gewerkschaft ver.di in der Verantwortung, weil deren Fahnen in der Nähe des Antikapitalistischen Blocks wehten und CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt erklärte: „Die Linkspartei hat die Demo mit organisiert und es zugelassen, dass sich ein schwarzer Block formiert, aus dem die Sprengsätze flogen“. Der CSU-Generalsekretär forderte weiter: „Wir brauchen jetzt umgehend schärfere Gesetze und ein höheres Strafmaß bei Angriffen auf Polizeibeamte, die gewaltbereite Chaoten auch wirklich abschrecken.“ Dementsprechend plädierte CDU-Innenexperte Wolfgang Bosbach in der aktuellen Stunde im Bundestag für eine Verschärfung des Landfriedensbruchparagraphen, um künftig nicht nur direkte Täter sondern auch umstehende Demonstranten in Kollektivhaftung nehmen zu können.
Die Methode ist bekannt: Angebliche Säureattacken der Clownsarmee bei den Protesten gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm 2007 entpuppten sich als harmloses Wasser. Und jetzt wurden Böller medial zu lebensgefährlichen Splitterbomben aufgeblasen.
Um es deutlich zu sagen: auch der Einsatz solcher starker Böller, die ja nicht nur Polizisten verletzten, sondern auch umstehende Demonstranten gefährdeten, ist durch nichts zu rechtfertigen. Doch die Linkspartei und die sozialen Bewegungen dürfen sich vom aufsteigenden Nebel der Böller jetzt nicht die Sinne vernebeln zu lassen.
Denn Zielrichtung ist klar. Das von den Medien und Unionspolitikern aufgebaute Gespenst des „Splitterbomben schmeißenden Autonomen“ dient als Buhmann. Denn vor allem wollen die Staatsorgane gerüstet sein angesichts einer zunehmenden sozialen Polarisierung, wenn die Folgen der Wirtschaftskrise und der Sparpakete der Regierung allgemein spürbar werden. Wenn sich Hartz-IV-Empfänger gegen Zwangsumzüge oder Arbeitspflicht wehren, Gewerkschafter gegen Massenentlassungen protestieren oder es tatsächlich einmal zu den vielbeschworenen „sozialen Unruhen“ kommt, dann wollen die Herrschenden über das nötige gesetzliche Abschreckungsinstrumentarium verfügen.
*Die Autorin ist innenpolitische Sprecherin der
Fraktion DIE LINKE im Bundestag

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