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Schein und Sein

Ahmet Yaşaroğlu

 

Der frühere Generalstabschef Ilker Basbug ist verhaftet worden. Das Parlament gab seine Zustimmung für ein Verfahren gegen den CHP-Führer Kilicdaroglu. Der faschistische Militärputsch vom 12. September 1980 wurde ebenfalls zum Gegenstand eines Strafprozesses. Zwei der fünf Generäle, die den Putsch durchgeführt hatten, Evren und Sahinkaya, wurden verhört. Zahlreiche Journalisten sind inhaftiert. Man kann in diesem Zusammenhang noch viele andere Beispiele aufzählen. Sie werden vor Gerichte zitiert. Die Regierung und ihr Chef sagen, dass niemand Immunität genießt.

Inzwischen führt niemand mehr Buch über die Zahl der verhafteten Generäle und Offiziere. Früher waren sie Götter, die sich in alles einmischen dürfen, aber für nichts zur Rechenschaft gezogen werden. Regierungen wurden gestürzt, ihre Mitglieder erhängt, Staatspräsidenten inhaftiert, zigtausende ohne Gerichtsverfahren in Gefängnisse gesteckt, gefoltert oder exekutiert. Jetzt scheint sich dieses Blatt gewendet zu haben. Es ist allerdings nur der Schein. Dieser Anschein und die Realität sind zu differenzieren. Diese Entwicklungen und deren Ursachen sind richtig einzuschätzen. Was ist damit gemeint? Wenn in einem Land der Ministerpräsident um die Opfer früherer Militärputsche trauert, müsste man davon ausgehen, dass die Demokratisierung dieses Landes sehr weit vorangeschritten sei. Es gibt jedoch nur wenige Menschen, die diese Ansicht teilen können. Nur wenige glauben an Fortschritte bei der Demokratisierung. Auch die EU, die immer wieder als das Mass für alle Demokratisierungsbemühungen angeführt wird, verschärft ihre Kritik in dieser Hinsicht.

In diesem Land werden Dutzende Menschen, darunter viele Kinder, bei Luftangriffen der eigenen Kampfjets getötet, ohne dass die Verantwortlichen dafür zur Rechenschaft gezogen werden. In diesem Land spielt die Justiz eine Rolle, die sie zur Exekutive der Regierung macht. Sie steckt Menschen ohne Gerichtsverfahren für mehrere Jahre ins Gefängnis, Journalisten und Schriftsteller werden verhaftet, tausende von kurdischen Politikern werden hinter Gitter gebracht, ohne ihr Recht auf Verteidigung in ihrer Muttersprache wahrnehmen zu können. Die Rechtsprechung der so genannten “Gerichte mit Sonderkompetenzen” lassen die Militärgerichte oder die Staatssicherheitsgerichte als Unschuldslämmer erscheinen. Vor dem Hintergrund dieser Zustände kann man nicht von der Demokratie sprechen.
Es gibt sicherlich zahlreiche Gründe, warum nicht die Rede von Demokratie sein kann. Es gibt allerdings einen einzigen Grund, auf den die undemokratischen Praktiken der Regierung zurückzuführen sind. Sie versucht diese Scheinabrechnung mit früherem Unrecht fortzusetzen, um von ihrer reaktionären, undemokratischen Herrschaft abzulenken. Sie dient als Instrument bei dem Umbau des Staates und dessen Ordnung im eigenen Sinne. An die Stelle der früheren, zu kritisierenden Praxis wird eine neue Praxis gestellt, die ebenfalls kritikwürdig ist. Politisch ausgedrückt, wird die politische Reaktion neu formiert und deren Einflußbereich erweitert.

Einer der Ratschläge, den die USA an befreundete, in Not geratene Regierungen erteilen, kann so zusammengefaßt werden: Zur Not könnt ihr den Anschein erwecken, als wäre eure Politik gegen uns gerichtet. So könnt ihr die weitverbreitete Meinung, dass die Ursache allen Übels in der Zusammenarbeit mit uns zu suchen ist, schwächen und unter Kontrolle bringen. Analog dazu sehen wir, dass unsere Regierung viel weiter ist. Um eine neue, reaktionäre Politik zu installieren und die Zustimmung der Bevölkerung dazu zu erreichen, greift sie die vergangene politische Praxis an, die den Menschen großes Leid  zugefügt hat. Dabei stützt sie sich auf die Vergangenheit, bewahrt und stärkt deren Instutionen. Wir müssen sehen, dass sie auf diesem Weg große Fortschritte erzielt hat.

Allerdings haben politische Ereignisse manche objektiven Folgen. Manchmal stellen sie auch etwas dar, was von den Herrschenden nicht beabsichtigt wurde. Im Zuge der Ermittlungen gegen Ex-Generäle bringt die Bevölkerung in Erfahrung, dass ihre früheren Führer nicht den nationalen Interessen dienten, sondern vor allem im eigenen Interesse handelten. Die objektive Folge dessen ist die Verbreitung der Meinung, dass weder der Staat, noch dessen höchste Vertreter unantastbar sind. In Zukunft wird es nicht schwer sein, die Menschen von den Verbrechen der heutigen Machthaber zu überzeugen. Wenn in einem Land die Demokratie aufgebaut werden soll, bedarf es einer starken politischen Bewegung der breiten Massen, der Arbeiter und der Werktätigen. Vor kurzem hatte der frühere Minister und heutige Parlamentspräsident Cicek im Hinblick auf die strafrechtliche Verfolgung der Ex-Generäle erklärt, der Todesengel sorge für Recht. Damit hatte er die verstorbenen Generäle gemeint und auf das hohe Alter der beiden überlebenden Putschistengeneräle hingewiesen. Aus der Sicht der Demokratie ist jedoch zu vermerken, dass die Bestrafung von Verbrechern nicht die Aufgabe des Todesengels, sondern der Bevölkerung ist. Nicht die Sense des Todesengels, sondern das Schwert des Volkes ist gefragt.

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