Die im Parlament vertretenen Parteien bieten sich ein Wettrennen darum, Ausreden zu erfinden, um nicht als die Verantwortlichen für eine Zeit ohne Regierung und für Neuwahlen dastehen. Nur die HDP macht hier eine Ausnahme. Sie hat erklärt, dass sie sich nicht an einer Koalition beteiligen wird und bereit ist, die Aufgabe der Oppositionspartei zu übernehmen.
Während die MHP bemüht ist, eine Koalition mit eigener Beteiligung zu beschreiben, lässt sie gleichzeitig spüren, dass sie am ehesten für eine Koalition mit der AKP in Frage kommt. Es gab in Vergangenheit ausreichend Beispiele dafür, dass die MHP mit der Begründung „Wahrung von Landesinteressen“ der AKP zur Hilfe eilte. Von daher scheint eine Regierungskoalition aus AKP und MHP als letzter Ausweg am wahrscheinlichsten, sollten alle anderen Optionen nicht umgesetzt werden können.
Die CHP hingegen macht den Eindruck, dass sie nach langen Jahren wieder einmal mitregieren möchte. Deshalb zeigt sich zumindest in diesen Tagen offen für alle Optionen mit Regierungsbeteiligung.
Die AKP versucht zu beweisen, warum eine Koalition ohne sie nicht möglich sei. Dies könnte zugleich als Versuch eines Nachweises dafür gedeutet werden, warum Koalitionen gegen die Interessen des Landes gerichtet seien. Sie sagt, eine Koalition ohne die AKP würde nicht die Gesamtheit des Landes repräsentieren. Ihre Begründung: die AKP habe Parlamentssitze in 75 Provinzen errungen.
Diese Partei erlitt im Vergleich zu den letzten Wahlen einen schweren Verlust. Sie wird schwächer. Heute kann man noch nicht sagen, wie sich dieser Verlust weiter entwickeln und sie in zwei Jahren oder sechs Monaten stehen wird. Aber feststeht, dass sie weiter an Kraft verlieren wird. Von daher ist ihr Argument für die Zukunft nicht zulässig, höchstens im Hinblick auf die Vergangenheit.
Es gibt sehr vielen Konstellationen, die man sich unter Einbeziehung der Wünsche von Parteien oder der Herrschenden ausrechnen kann. Tatsache ist jedoch, dass die Haltung von Staatspräsident Erdogan bzw. sein Verhältnis zur AKP oder den anderen Parteien das größte Hindernis vor dieser oder jener Koalitionsoption darstellt. Seine Haltung, die er als „de facto Präsident“ seit seiner Wahl zum Staatsoberhaupt an den Tag legt, wird die Beantwortung aller Fragen bestimmen.
Sollte es kein Wunschdenken sein, ist die Behauptung, AKP und Erdogan würden sich wieder der Verfassung beugen, lediglich ein Täuschungsversuch. Diese Behauptung dient auch dazu, alle Koalitionsoptionen ohne AKP auszuschließen bzw. „Neuwahlen“ zu legitimieren.
So haben Erdogan und Davutoglu heute schon angefangen, diejenigen, die sich nicht an einer Koalition beteiligen möchten, als „verantwortungslos“ zu beschuldigen. Darauf könnten die Vorwürfe folgen, „Landesverrat“ zu begehen oder sich von „in- und ausländischen Verschwörern instrumentalisieren“ zu lassen.
Heute finden also zwei verschiedene Koalitionsverhandlungen statt: einerseits gibt es die Debatte in den Medien, bei der sich Politiker, Wahlforscher, Journalisten etc. austoben dürfen. Andererseits werden hinter verschlossenen Türen harte Verhandlungen unter den Machthabern geführt. Vor beiden steht allerdings dasselbe Hindernis: Staatspräsident Erdogan, der faktisch als der eigentliche Chef der AKP das Präsidialsystem anwendet. Wenn keine Lösung gefunden wird, bei der Erdogan in die von der Verfassung gezogenen Grenzen zurückgedrängt wird, werden beide Initiativen nicht zum Ergebnis führen.
İhsan Çaralan