Vor den Neuwahlen spitzt sich die innenpolitische Lage in der Türkei immer weiter zu. Sowohl politisch, als auch gesellschaftlich gleicht die Türkei im Moment einem Pulverfass, dass überall und jeden Moment in die Luft zu gehen droht. Seitdem die AKP-Regierung im Juli den Waffenstillstand mit der PKK brach und unter dem Vorwand IS-Stützpunkte zu bombardieren die PKK angriff, kommt es auf beiden Seiten vermehrt zu Angriffen und Verlusten.In einigen Städten, wie zum Beispiel Cizre, verhängte die Regierung Ausgangssperren und täglich kommen Nachrichten von toten Zivilisten, Soldaten oder PKK-Milizen. Auch sind viele Kinder unter den zivilen Todesopfern. In Cizre starb ein 12-jähriges Mädchen durch Armeekugelhagel. Die Familie musste aufgrund der Ausgangssperre ihren Leichnam zunächst in der Tiefkühltruhe aufbewahren. Eine Situation, in der alle Worte versagen. Aber vor allem eine Situation, aus der sich die AKP-Regierung den Sieg bei den kommenden Neuwahlen erhofft. Denn wenn es auf demokratischem Wege nicht zu ihrer Mehrheit kommt, dann vielleicht durch die Spaltung der Gesellschaft,so jedenfalls der Plan.
Nationalisten wüten auf den Strassen und stecken Büros in Brand
Ein Plan, der in den letzten zwei Monaten die ein oder anderen Früchte getragen hat, denn die Gesellschaft der Türkei war lange nicht mehr so gespalten wie heute. Als bei zwei Anschlägen von PKK-Milizen fast 30 Soldaten und Polizisten getötet wurden, verlagerte sich der Konflikt auf die Straße. Wütende Menschenmassen, die von Stadtteil zu Stadtteil zogen, Geschäfte mit kurdischem Namen steinigten und verbrannten. Zudem gab es Angriffe auf Fernbusse, die auf dem Weg in die kurdischen Gebiete im Südosten waren. Ebenso nahmen Nationalisten sich das Recht, Ausweise von kurdisch aussehenden Menschen zu überprüfen und diese zu verprügeln, wenn sie aus einer kurdischen Stadt stammten. Ein junger kurdischer Mann wurde in Istanbul erstochen, nur weil er am Handy kurdisch sprach. Hunderte Angriffe auf HDP-Büros hat es im letzten Monat gegeben, da türkische Nationalisten die Partei als politischen Arm der PKK betrachten. Diese wurden entweder verbrannt wie die Parteizentrale in Ankara oder komplett zerstört. In Ankara konnte ich selber beobachten wie ca. 300 Faschisten, bewaffnet mit Feuerwerkskörpern und Dönermessern, versuchten, ein alevitisch-sozialistisch geprägten Stadtteil zu stürmen, mit der Polizei und Wasserwerfern als Unterstützung. Sie scheiterten jedoch am Widerstand der Bevölkerung. Bei einer Demonstration in Istanbul schrien die Beteiligten: „Wir wollen keine Operationen, wir wollen ein Blutbad!“ Mehrere Tausend Menschen waren auf dieser Demo.
Der Chef der HDP, Selahattin Demirtas, beschuldigte nach Übergriffen von Nationalisten in den vergangenen Wochen die Regierung, „Lynchversuche“ gegen Kurden unterstützt zu haben. Die Angriffskampagne sei vom Staat gesteuert. Präsident Recep Tayyip Erdogan und Regierungschef Ahmet Davutoglu hätten die Entscheidung „für einen Bürgerkrieg gefällt“.
Nicht nur auf die Straße weitete sich der Konflikt aus, er schafft es auch in die Wohnzimmer der Menschen, denn wer jetzt keine türkische Fahne an sein Fenster hängt, muss sogar befürchten, als Vaterlandsverräter gebrandmarkt zu werden. Denn von Meinungsfreiheit ist die Türkei jetzt viel weiter entfernt, als es vor einem Jahr noch (zumindest) schien. Ein durch die Medien und die Gesellschaft verbreiteter psychischer Druck zwingt die meisten Menschen, zu verbergen, dass sie die HDP wählen.
Gewaltexzesse der Nationalisten wird nach Deutschland transportiert
Durch die Wahlkampagnen der türkischen Parteien in Deutschland und durch türkische Medien, wird der in der Türkei herrschende Konflikt auch nach Deutschland getragen. Es ereigneten sich zahlreiche Demos in vielen Städten Deutschlands, oft für den Frieden, doch nicht immer friedlich. Die negative Stimmung in der Türkei macht sich nämlich auch hier bemerkbar. „Türken“ greifen „Kurden“ an und umgekehrt. Demonstrationen enden mit Eskalationen, wie zum Beispiel in Köln und zwischen den Demonstrationsteilnehmern macht sich vor allem die Uneinigkeit bemerkbar. Einige beschuldigen die HDP, einige die AKP und andere fordern wiederum den Frieden und den Waffenstillstand. Auch in den Schulen und Arbeitsplätzen ist die Stimmung zwischen vielen Kurden und Türken meistens getrübt.
Rechte Nationalisten bleiben unter sich. Die Mehrheit ist für Frieden
Jedoch gibt es auch eine andere Seite der Medaille. Türkeistämmige, Türken und Kurden, die Hand in Hand für den Frieden und den Waffenstillstand demonstrieren und zusammen halten, die trotz allem auf Demonstrationen rufen: „Wir lassen uns nicht auf eure Provokationen ein!“ und auch von der Bundesregierung eine klare Stellungnahme und Konsequenz für Erdogan fordern.
„Wir brauchen die Unterstützung der Bundesrepublik Deutschland insbesondere zur Lösung der Kurdenfrage.“,sagte HDP-Chef Selahattin Demirtas. Das betreffe auch mögliche Verhandlungen der PKK mit dem türkischen Staat. „Deutschland könnte und sollte hier eine gewichtigere Rolle spielen als bisher.“
Dass Deutschland und Europa zu den Geschehnissen schweigen, ist so skandalös wie kalkuliert. Denn der NATO-Partner wird bewusst geschont. Berlin und Brüssel wissen zudem sehr genau, dass Erdogan und seine Regierung auf Knopfdruck einen noch größeren Flüchtlingsstrom aus der Türkei nach Europa auslösen könnte und wollen außerdem in einer Zeit in der sich der Syrien-Konflikt zuspitzt, keinen wichtigen NATO-Partner verärgern, nur um ein paar Menschenleben, die Meinungsfreiheit und die Grundrechte der Menschen zu verteidigen. Denn mit diesen wird seit eh und je flexibel umgegangen!
Dogus Ali Birdal