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Türkei: Wirtschaft wächst – doch die Arbeiter zahlen den Preis

Die Entwicklungen in der Türkei der letzten Monate haben vielen Arbeitern erneut vor Augen geführt, wie tief die politische und soziale Krise des Landes inzwischen geworden ist. Die Regierung setzt immer entschlossener auf Repression, während die wirtschaftliche Lage sich verschärft und die Lebensbedingungen breiter Bevölkerungsschichten weiter belastet werden. Hinter dieser Krise steckt ein Zusammenspiel aus politischem Autoritarismus, ökonomischer Unsicherheit und wachsender sozialer Wut. In vielen Städten der Türkei ist zu spüren, wie die Unzufriedenheit der Bevölkerung zunimmt.

Grundbedürfnisse wie Wohnen, Energie und Lebensmittel sind für breite Teile der Gesellschaft kaum noch erschwinglich. Die offizielle Inflationsrate liegt weit unter dem, was Menschen im Alltag erleben – jeder Einkauf, jede Gasrechnung zeigt, wie tief der Reallohn gesunken ist. Während die Regierung versucht, diese Entwicklungen mit Verweis auf äußere Feinde oder internationale Verschwörungen zu erklären, spüren die Arbeiter in Fabriken, Werkstätten und Büros, dass die Lasten der Krise ausschließlich auf ihnen abgeladen werden. Die Reallöhne sinken, Überstunden nehmen zu, und prekäre Beschäftigung wird zur Norm.

Wirtschaftswachstum, doch der Wert der Arbeit sinkt

Die türkische Wirtschaft ist im dritten Quartal 2025 um 3,7 Prozent gewachsen. Doch dieses Wachstum spiegelt sich nicht im Leben der Arbeiter wider – im Gegenteil: Der Anteil der Löhne am Bruttoinlandsprodukt sank in nur drei Monaten um 3,4 Prozentpunkte. Während die Baubranche dank staatlicher Großprojekte, Erdbebenwohnungen und spekulativem Kapital zweistellig zulegte, schrumpfte die Landwirtschaft um dramatische 12,7 Prozent. Millionen Beschäftigte in der Landwirtschaft, die ohnehin unter hohen Kosten, Importabhängigkeit und Wetterextremen leiden, wurden erneut getroffen.

Gleichzeitig wuchsen Finanz-, Versicherungs- sowie Informations- und Kommunikationssektoren stark, während zentrale öffentliche Bereiche wie Bildung, Gesundheit und Verwaltung kaum zulegten. Investitionen in die Grundversorgung sinken, die Privatisierung schreitet voran. Das Wachstum der Industrie bleibt moderat und findet in einem Umfeld statt, in dem Reallöhne sinken und Erwerbsarmut zunimmt.

Auch der Außenhandel zeigt ein klares Bild: Durch den Sparkurs der Regierung und die reale Aufwertung der Lira steigen die Importe, während die Exporte zurückgehen. Die Türkei bleibt abhängig von ausländischem Kapital und teuren Importen.

Das Bruttoinlandsprodukt lag im dritten Quartal 2025 zu laufenden Preisen bei 17,4 Billionen TL; in US-Dollar bei rund 433 Milliarden. Die privaten Haushalte konsumieren mehr – allerdings zunehmend auf Kredit. Der Staat dagegen schränkt seine Ausgaben auf ein Minimum ein. Der Sparkurs schwächt die öffentlichen Dienstleistungen und erschwert das Leben der Arbeiter weiter.

Noch deutlicher wird die soziale Schieflage bei der Verteilung des wirtschaftlichen Erzeugnisses: Während die Arbeitgeber- und Kapitalgewinne um 43,5 Prozent stiegen und ihren Anteil an der Wertschöpfung weiter ausbauten, stagniert der Lohnanteil seit einem Jahr bei 35 Prozent. Nominale Lohnerhöhungen verpuffen in der hohen Inflation – reale Einkommen sinken.

Mindestlohnstreit: Herrschende drücken den Mindestlohn

Während die wirtschaftliche Lage für Beschäftigte immer schwieriger wird, gewinnt die Debatte um den Mindestlohn für 2026 an Bedeutung. Doch der Mindestlohnfestsetzungsausschuss (AÜTK) konnte bislang nicht tagen. Türk-İş, Vertreter der Arbeiter, verweigert die Teilnahme – die Kommission sei strukturell unfair, Entscheidungen würden im Sinne von Regierung und Arbeitgebern getroffen.

TÜİK meldet für November eine Jahresinflation von 31 Prozent; das unabhängige Institut ENAG dagegen 57 Prozent. Die Differenz ist politisch brisant, denn der Mindestlohn wird formal auf Basis der TÜİK-Zahlen berechnet. Türk-İş fordert, dass bei der Berechnung des Warenkorbs realistischer wird: Mieten, Lebensmittel, Transport und Bildung sollen stärker gewichtet werden, dazu müssten die realen Verluste des Vorjahres und ein Wohlstandsaufschlag einfließen. Nach diesen Kriterien wäre eine Erhöhung um etwa 50 Prozent nötig.

Aktuell beträgt der Mindestlohn 22.104 TL (ungefähr 450 Euro). Selbst mit einer Erhöhung um 50 Prozent würde der neue Mindestlohn von rund 33.000 TL im Februar 2026 unterhalb der erwarteten Armutsgrenze liegen. Dennoch trommeln Regierung, Zentralbank, internationale Banken und regierungsnahe Ökonomen für eine Erhöhung von lediglich 20–25 Prozent.

Auch der Gewerkschafsverband DİSK warnt: Der Reallohnverlust der Mindestlohnempfänger beträgt rund 6.300 TL in zehn Monaten. Die Armutsgrenze liegt bei 30.000 TL, die Armutsrisikogrenze bei über 90.000 TL. Eine bloße Anpassung an die Zielinflation sei unbezahlbar für die Beschäftigten.

Warum die Kommission nicht ausreicht

Der Mindestlohnstreit zeigt deutlicher als je zuvor: Ohne Druck der Arbeiter bleibt jede Verhandlung eine Farce. Selbst wenn die Kommission reformiert würde, bleibt die Entscheidungsmacht ohne Mobilisierung der Arbeiter einseitig verteilt. Die Arbeitgeberseite und die Regierung können sich ihrer Position sicher sein, solange die Arbeiter nicht organisiert auftreten.

Die grundlegende Schwäche besteht darin, dass Millionen Mindestlohnempfänger zwar existenziell betroffen sind, aber die Kommission ihre Stimme kaum spürt. Die Gewerkschaften haben rechtlich-politische Kanäle, Beratungsstrukturen und Verhandlungstische – doch all das reicht nicht, ohne einen organisierten Arbeitskampf.

Gewerkschaften müssen die Arbeiter in Bewegung bringen

Die Kraft der Gewerkschaften erwächst nicht aus den Fähigkeiten einzelner Funktionäre, sondern aus der Organisiertheit und dem gemeinsamen Handeln der Arbeiterklasse. Solange die Millionen Mindestlohnarbeitenden nicht als vereinte und aktive Kraft auftreten, bleiben Kommissionen, Verhandlungen und Appelle wirkungslos. Entscheidend ist, dass Gewerkschaften Betriebe, Straßen und Plätze zu Orten des Widerstands machen, Proteste unterstützen und landesweite Einheit schaffen. Nur dann werden Arbeitgeber und Regierung gezwungen sein, die Forderungen der Beschäftigten ernst zu nehmen. Solange das nicht geschieht, bleibt das Kernproblem bestehen – gestern wie heute.

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