Jeden Tag verlieren 3, 5, 8, 10 Soldaten und Polizisten in bewaffneten Auseinandersetzungen ihre Leben. In vielen Städten des Landes übertönen die rassistischen und chauvinistischen Rufe nach „Krieg“ und „noch mehr Gewalt“ das Weinen und die tiefe Trauer der Familien der Gefallenen. Die Regierung und ihr gesinnte Medien schaffen eine politische Atmosphäre, in der lediglich, statt die Fragen zu stellen „Was ist der Grund für das, was geschieht; der Grund für die Toten; wer trägt die Verantwortung; welche Politik hat dieses Land in dieses Dilemma gebracht?“, den Tag zu retten, als die einzige Lösung gesehen wird. Und in dieser trauer- und kriegsfördernden Atmosphäre versucht die Regierung, den Tag zu retten, indem sie eine „Sicherheitskonferenz“ ins Leben ruft und Erklärungen abgibt wie „Wir werden niemals einknicken!“ und „Wir werden zuschlagen, vernichten!“. Gegen diejenigen, die Frieden und Demokratie fordern oder Lösungsvorschläge anbieten, wird mit Drohungen, Anschuldigungen und aggressiven Beschimpfungen vorgegangen.
Aber was ist mit dem Rest des Landes?
Mit den Familien, die in Städten und Dörfern der Zone (allgemein gebräuchlicher Begriff für die kurdische Region, d. Übersetzer) oder sogar in Istanbul, Izmir, Bursa, … lebenden Kurden, die in den Bergen oder Städten ihre Kinder verloren?
Auch kurdische Familien bekommen jeden Tag 3, 5, 8, 10 Leichnahme zurück, auch ihre Kinder sterben und auch sie fühlen den gleichen Schmerz, wie die türkischen Familien. Und das begleitet von Musik und Tanz und mit lautem Propagandageschrei der Regierung, des Sicherheitsrates und der Medien: Wir haben fünfzig, hundert, zweihundert „getötet“, „unschädlich gemacht“! Die Regierung und die Behörden verhalten sich so, als wären die Familien keine Staatsbürger der Türkischen Republik, gehen weder zur Begräbnis, noch zur Beerdigung.
Nun; wenn wir jetzt fragen: „Hat die Regierung in Bezug auf die ‚Lösung des Kurdenproblems’ einen anderen Vorschlag, als dass die ‚PKK soll die Waffen niederlegen und sich ergeben’?“ Leider lautet die Antwort auf diese Frage: „Nein!“
Was passiert, wenn die PKK die Waffen nicht niederlegt oder wenn militärische Operationen nicht dazu führen? Wird dieser Krieg, diese Gewalt, das Hetzen dieser beiden Völker gegeneinander ein ganzes Jahrhundert lang weitergehen?
Wenn man sich die Haltung der Regierung anguckt, lautet die Antwort auf diese Frage leider „Ja!“ Das Loch, in dem sich die AKP-Regierung aufgrund ihrer „Ausweglosigkeit“ befindet, ist aber nicht ausschließlich nur eine Frage der Lösung des Kurdenproblems.
Auch in Bezug auf das Syrien-Problem existiert die gleiche Ausweglosigkeit!
Immer wenn die „Syrische Opposition“, deren Herkunft so unklar ist, eine Stadt an der Grenze erobert und das Geschrei „Allahuekber“ („Allah ist der Größte“, d. Übersetzer) ertönt, jubelt unsere Presse Siegesschreie. Danach interessieren die Fragen „Was passiert in Syrien?“, „Wie entwickelt sich das Syrienproblem in der internatonalen Diplomatie?“, „Was passiert in der Zone?“ die Türkei nicht mehr.
Denn die AKP-Regierung hat jeglicher Option, außer, dass Assad gestürzt wird und die Opposition die Macht ergreift, den Rücken gekehrt. Dabei hat der UN-Generalsekretär erst gestern noch erklärt, dass das Syrienproblem nicht mit einem Bürgerkrieg oder bewaffneten Kämpfen beigelegt werden kann und die Ratingagentur Standard and Poors warnte, dass die Entwicklungen in Syrien die Türkei (und die anderen Nachbarstaaten auch) wirtschaftlich stark bedrohen könnten.
Die Fragen, die wir oben in Bezug auf das Kurdenproblem gestellt haben, können wir hier noch einmal wiederholen: Was passiert, wenn die syrische Opposition es nicht schafft, das Assad-Regime zu stürzen; was ist der Lösungsweg der türkischen Regierung; welche Lösung hat sie dann für das bevorstehende Problem, ihre hunderte Kilometer langen Grenzen zu Syrien zu beschützen?
Hat die Regierung eine Antwort auf ihre Ausweglosigkeit?
Wenn man den Ministerpräsidenten und den Außenminister hört, wird klar und deutlich, dass wir einem Ausweglosigkeitssyndrom gegenüberstehen. Die Regierung und ihre Sprecher in allen Bereichen befinden sich auf einem Niveau, in der alle, die diese Ausweglosigkeitspolitik kritisieren, als Verräter, Feinde, Feiglinge, Anstandslose … beschimpft werden. Diese kranke Haltung produziert eine politische Verblendung, die nicht einmal sieht und spürt, was es eigentlich bedeutet, die BDP (kurdische ‚Partei für Frieden und Demokratie’, d. Übersetzer) aus dem Parlament (aus dem legalen politischen Bereich) auszugrenzen.
Diese Ausweglosigkeit in den Schlüsselfragen der Innen- und Außenpolitik sorgt dafür, dass die politische Arena auch Provokationen und größeren und kleineren Strudeln ausgesetzt wird. Die politischen Strudeln sorgt auch die CHP, die in den letzten Wochen in Bezug auf beide Fragen zumindest in Ansätzen eine annehmbare Richtung eingeschlagen hatte, wieder in ihre alten Positionen zurück (wie man das an den Oslo-Diskussionen und an den Diskussionen um den ‚Kampf gegen Terror’ sehen kann). Im Ganzen kann folgendes gesagt werden; die chronische „Ausweglosigkeit“ „vergiftet“ nicht nur die Regierung, sondern auch die Schicht des liberalen Kapitals und das bedeutet für die demokratischen Kräfte auf der einen Seite, zusätzliche Aufgaben, die es zu lösen gilt und auf der anderen Seite die Möglichkeit, sich mit dem Volk zu verbinden und die Forderung nach Frieden und Demokratie auf einer breiteren Ebene zu fordern. Hierzu muss sie es nur schaffen, Frieden, Demokratie und Freiheit entschlossen zu verteidigen und Initiative zu zeigen.
İhsan Caralan