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Vierzig Jahre Radikalenerlass

Am 28.1.1972 haben auf Initiative von Bundeskanzler Willy Brandt die Ministerpräsidenten der Länder den Radikalenerlass verfügt: „Die, die keine Gewähr für die FDGO (freiheitlich-demokratische Grundordnung) bieten, sind vom öffentlichen Dienst auszuschließen oder zu entfernen.“ Angeblich sollten neben Linksradikalen auch Rechte aus dem öffentlichen Dienst ferngehalten werden. (von Berufsverboten gegen Rechte ist nichts bekannt geworden!)
Seit diesem Erlass wurden über 3.5 Mio. Menschen vom Verfassungsschutz überprüft und durchleuchtet; über 11000 Eintritte oder das Verbleiben im öffentlichen Dienst ( z.B. Lehrer, Lokführer, Postboten etc.) wurden verhindert. Tausende berufliche Existenzen und Lebensperspektiven von Linken Antifaschisten und Kommunisten der unterschiedlichsten Richtungen wurden vernichtet. In vielen Fällen ist der direkte Nachweis des Berufsverbots in einer juristischen Prozedur nicht möglich.
Der Schriftsteller Heinrich Böll sagte nach den ersten Jahren der Berufsverbotshysterie: „In keinem freiheitlichen demokratischen westeuropäischen Staat wäre ein solcher Erlass möglich.“ Diese antikommunistische Hysterie hat in Westdeutschland eine lange Tradition. Nach dem Untergang des Hitlerfaschismus haben mit Beginn des Kalten Krieges US-Geheimdienste Wehrmachtsspezialisten der Organisation „Fremde Heere Ost“ als Fachleute in ihren militärischen Expertenkreisen integriert, um genaue Informationen über die Rote Armee und anderer auf den Sozialismus ausgerichteten Staaten in Osteuropa zu erhalten. Einer dieser Wehrmachtsspezialisten, General Gehlen, wurde nach Staatsgründung der BRD der Chef des westdeutschen Verfassungsschutzes in Pullach bei München. Gehlen gelang es, viele „ehemalige“ Nazis in die Geheimdienste im Westen Deutschlands unterzubringen.
1956 wurden die KPD sowie Nebenorganisationen durch das Bundesverfassungsgericht verboten. Von jetzt an wurden nicht nur Kommunisten, sondern auch andere Linke, konsequente Gewerkschafter bis hin zu kritischen Sozialdemokraten unter Druck gesetzt. Für politische Aktivitäten für die KPD oder Umkreisorganisationen wurden Gefängnisstrafen verhängt, die einen Rekord in Europa bedeuteten. Selbst im faschistischen Franco-Spanien der 50er Jahre waren die Gefängnisstrafen für Kommunisten und Linke deutlich unter dem Niveau Deutschlands.
Betroffen waren viele Gruppen: Sponties, Anarchisten, Trotzkisten, Antifaschisten bis hin zu linken Sozialdemokraten. Eine wichtige Zielgruppe für den Staat in Fragen Berufsverbote waren aber auch kommunistische Gruppierungen, die sich in einer ausdrücklichen Kritik gegen die politische Linie der realsozialistischen Staaten in Osteuropa gebildet hatten. Diese K-Gruppen rekrutierten ihre Anhänger aus der 68er-Revolte, die maßgeblich an den Universitäten geprägt wurde; aber auch aus einem Aufschwung der Arbeiterbewegung (z.B. die wilden Streiks 1969 und der Jungarbeiter- und Lehrlingsbewegung.) Altkommunisten aus der KPD –nun in scharfer Konfrontation zur Linie der realsozialistischen Staaten und der DKP – hatten hierbei ebenfalls einen Stellenwert zB. Ernst Aust in der KPD/ML oder Willi Dickhut, heute MLPD.
Zu diesen K-Gruppen gehörten der KBW, die KPD und die KPD/ML. Dazu kamen noch verschiedene Abspaltungen oder andere regionale Gruppierungen. Fast alle diese Gruppen haben sich ab Anfang der 80er Jahre aufgelöst. Eine gewisse Stabilität und Kontinuität kann aus diesem Spektrum allein die 1982 neu gegründete MLPD für sich beanspruchen.
Was an diesen K-Gruppen – aus Sicht der Herrschenden-  besonders beunruhigend war,  war dass viele aus der 68er- Bewegung entstammten oder aus der Jungarbeiter- und Lehrlingsbewegung in diese radikalen Organisationen strömten. Es gibt Schätzungen, dass über 150000 Aktivisten – meist junger Leute- sich diesen Kommunistengruppen für einen längeren Zeitraum anschlossen. Genaueres weiß aber sicherlich der Verfassungsschutz!
Durch die Unfähigkeit und Zerstrittenheit dieser K-Gruppen gelang es nicht, die vielen Tausend Genossen langfristig in die politische Arbeit für sozialistische Ziele zu integrieren und besonders in der Arbeiterklasse den Einfluss zu erhöhen. Diese Misserfolge führten dazu, dass sich die meisten der Gruppen selbst auflösten.
Als Beispiele für Berufsverbote möchte ich zwei Fälle genauer schildern:
Ein Genosse aus Dortmund, aus einer Bergarbeiterfamilie stammend, studierte das Fach Altphilologie. An seinem Fachbereich war er als aktiver KPD/MLer bekannt. Offenbar aus diesem Grund wurde er nicht zur Examensprüfung zugelassen, obwohl er alle Voraussetzungen erfüllt hatte. Danach schloss er eine Lehrerausbildung mit dem ersten und zweiten Staatsexamen ab. Der Versuch, als Lehrer zu arbeiten, scheiterte: Einmal wurde behauptet, eine Einstellung ist unmöglich, da angeblich unklar sei, ob das Schulamt Arnsberg oder Münster zuständig sei. Dann wurde er vom Lehramt ausgeschlossen, da er bei Massenprotesten gegen Fahrpreiserhöhungen im öffentlichen Nahverkehr rechtskräftig zu einer Geldstrafe verurteilt wurde. Einen festen Job hat er dann nicht mehr erhalten. Aufgrund seiner Kenntnisse der antiken Sprachen erhielt er aber eine Honoraranstellung als Übersetzer. Die Bezahlung war bescheiden. Zur Aufbesserung seiner knappen Rente arbeitet er heute als über 70-jähriger immer noch als Dolmetscher auf Honorarbasis. Angesichte dieser Erfahrungen übernimmt er häufig die presserechtliche Verantwortung für Veröffentlichungen seiner Partei, die sich heute KPD nennt.
Der zweite Fall ist mein eigener: Nach meinem Abschluss als Diplom-Soziologe bekam ich
Anfang 1973 einen gut bezahlten Dozentenjob an einer sozialpädagogischen Fachschule zur ErzieherInnen–Ausbildung in Kassel. Für die Landtagswahlen im Herbst `74 wurde ich gebeten und ich entschied mich, auf der Landesliste der KPD zu kandidieren. Die Folge war, dass der evangelische Träger mich nach über 11 Jahren fristlos kündigte. Durch meine Kontakte zur Uni Marburg bewarb ich mich im Sommer 74 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich für Pädagogik. Diesen Job bekam ich auch und wurde weiterhin angemessen bezahlt. Die ersten Monate der Uni-Tätigkeit verliefen ohne Störungen. Nach dem Wintersemester war aber der Job weg. Der ehemalige Polizeipräsident von Kassel wurde mit der neuen SPD-Landesregierung Kultusminister in Wiesbaden. Einer seiner ersten Ministeraktivitäten war, mich aus der Uni Marburg hinauszusäubern. Natürlich wurde mir das nie offiziell mitgeteilt. Nach mündlichen Infos aus der Universitätsverwaltung gab es aber eine entsprechende Weisung aus Wiesbaden. Da die DGB-Gewerkschaften den Brandt-Erlass übernommen hatten, flog ich auch gleich aus meiner ÖTV-Gewerkschaft.
Von jetzt an war ich länger arbeitslos und weitere Bewerbungen blieben ohne Erfolg. Einige Jahre arbeitete ich auch als LKW-Fahrer in Kassel und Dortmund. (Meine Frau hatte nach ihrem Examen einen Job in Dortmund erhalten.)
Erst Anfang 79 bekam ich wieder eine Chance in meinem pädagogischen Bereich. Ich bekam einen Job als Sozialarbeiter, nun aber 4 Gehaltsstufen niedriger, als bei meinem letzten Uni- Job. Bei  diesem Arbeitgeber blieb ich bis zu meiner Frühverrentung Anfang 2006. Die letzten 10 Berufsjahre war ich Geschäftsführer für die Erwachsenenbildung bei meinem Wohlfahrtsverband auf Landesebene. Bei diesem Arbeitgeber (SPD nahe) war aber stets bekannt, dass ich 1974 für die KPD kandidiert habe. Sicherlich wurde ich entsprechend beobachtet. Als aktiver Gewerkschafter in verschiedenen Funktionen im Betrieb war ich nicht so leicht zu verdrängen. Das weiß ich auch, da ich mich Anfang der 90er auf einen VHS-Dozentenjob beim Landkreis Kassel beworben habe. Meine Bewerbungsunterlagen erhielt ich kommentarlos zurück. Von einem Gewerkschaftskollegen aus dieser Verwaltung weiß ich aber, dass ich durch die KPD-Verbindung von 1974 chancenlos war.
Willy Brandt hat nach Ende seiner Kanzlerschaft die Berufsverbote als einen Fehler oder Irrtum bezeichnet. Sein SPD-Nachfolger und Ex-Wehrmachtsleutnant Schmidt nannte diese Verfügung als eine Maßnahme, mit der mit Kanonen auf Spatzen geschossen wird. Solche Äußerungen nutzen den  tausenden Menschen deren Berufs- oder Lebensperspektiven zerstört wurden jedoch absolut nichts!
Die Berufsverbotsregelungen wurden in verschiedenen Bundesländern abgeschwächt und verändert.  In der Grundsubstanz existiert der Radikalenerlass nach 40 Jahren aber weiterhin! Ein Beispiel ist das Berufsverbot gegen den Lehrer Michael Csaszkoczy. Er erhielt zwischen 2003 und 2007 einen Ausschluss aus seinem Beruf, da er Mitglied einer antifaschistischen Gruppe in Heidelberg war.

 

Wilhelm Frohn

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