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Von einem Juni zum nächsten : Der Gezi-Aufstand

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Im Juni 2013 entlud sich ein Potential an Volksenergie in der Türkei, das nahezu noch nie dagewesene Maße annahm und in der Bevölkerung neue Reflexe und Möglichkeiten schuf, soziale Bewegungen zu stärken und zu kanalisieren.
Diese neue Bewegung zeigte, dass Einwirk- und Einschlagmöglichkeiten für soziale Forderungen und Kämpfe, die sich immer wieder und unabhängig voneinander entwickelten und entfalteten, nun viel mehr erreichen konnten, wenn die körperliche und geistige Unterstützung der Einzelbereiche miteinander gebündelt agierten und einander unterstützten. Die Regierung und die herrschende Politik als gemeinsamer Gegner halfen den einzelnen Akteuren, einander näher zu kommen und an einem gemeinsamen Strang zu ziehen.
Der Gezi-Widerstand entfachte sich zu einer Zeit, in der nationale und internationale Bedingungen beste Voraussetzungen boten und die Lebensbedingungen soweit eingeschränkt waren, dass es nicht mehr so weiter gehen konnte.
Im Jahre 2011 konnte man die ersten Teilerfolge des sogenannten „Arabischen Frühlings“ sehen (auch wenn an dem Gesamtsystem nicht immer grundlegende Änderungen festzustellen waren) und auch die Auswirkungen der Wirtschaftskrise und die Abwälzung ihrer Lasten auf die Länder in Südeuropa (Griechenland, Spanien und Portugal) und der Widerstand vor allem in Spanien und Griechenland dagegen, konnten nicht mehr ignoriert werden. Auf der anderen Seite hatte innenpolitisch der bereits seit 30 Jahren anhaltende Kampf der kurdischen Freiheitsbewegung es geschafft, die Regierung an den Verhandlungstisch zu zwingen und demokratische Forderungen zu diskutieren. Somit war die Zeit reif dafür, die Menschen leichter auf die Straßen zu bringen. Sie sahen, dass eine Besserung durchaus im Rahmen des Möglichen war. Nicht zuletzt war der Zwang vorhanden, sich zu wehren, da die AKP-Regierung nach den Wahlen 2011 dazu übergegangen war, noch weiter zu polarisieren und teilweise sogar ihre eigenen Wähler zu bekämpfen. So wurden Arbeiter, die streikten oder für ihre Rechte kämpften oder Familienangehörige von bei Arbeitsunfällen getöteter, auf die Zielscheibe gesetzt. Die Kleidung, Alkoholverbote, das Verbot der Abtreibung, die Forderung von Erdogan, jede Frau sollte mindestens 3 Kinder gebären, Razzien in Studentenwohnungen, weil dort „Mädels und Jungs“ zusammen leben würden usw waren Realität und sollten die Bevölkerung auf eine Linie mit der AKP trimmen. Und jeder, der während dieser Zeit protestierte oder auf die Straßen ging, um seine Rechte zu fordern, wurde marginalisiert und zum Kriminellen erklärt. Arbeiter und Gewerkschafter, die am 1. Mai zum Taksim-Platz in Istanbul wollten, wurden durch bestialische Polizeigewalt gestoppt und mit Gas und Schlagstöcken daran gehindert. Das Glas war nun voll und ein Tropfen hätte zum Überschwappen gereicht.
Und dieser Tropfen ließ nicht lange auf sich warten: Im Rahmen von Stadtverschönerung und Gentrifizierung sollte nicht zuletzt der Gezi Park den „ökonomischen und ökologischen Anforderungen“ zum Opfer fallen. Nicht nur die Eroberung der Stadt, sondern auch die Eroberung der Lebensvorstellungen strebte die AKP an. Jugendliche, die im Gezipark ein Protestzeltdörfchen aufgebaut hatten, wurden bei einer Nacht- und Nebelaktion verprügelt und aus dem Park gezerrt. Und Millionen von Menschen stürmten landesweit auf die Strassen.
Der Gezi-Widerstand hat das politische Gleichgewicht des Landes zum Wackeln gebracht und ist erloschen, nachdem er ein Zeichen für die kommende Zeit hinterlassen hat. Die Möglichkeit eines zweiten Gezi-Aufstandes ist die größte Sorge der AKP. Diese Volksbewegung und die Forderung nach Freiheit sieht die AKP nämlich als einen Putschplan gegen sich und das hat sogar mit dazu gesorgt, dass sie mit ihrem größten Partner, der Gülen-Bewegung, gebrochen hat und mit verschiedenen polizeilichen Operationen viele Gülen-Anhänger aus Justiz, Sicherheit und Bürokratie festgenommen und entfernt wurden. Dass ein Putsch stattfinden könnte oder die von ihr sogenannten „Parallelen Strukturen“ stärker werden könnten, hat die Regierung dazu gebracht, während des Militärputsches in Ägypten öffentlich die „muslimische Bruderschaft“ zu unterstützen und sich außenpolitisch ins Abseits zu befördern.
„Gezi“ hat Solidaritätsgefühle erweckt und dafür gesorgt, dass die Angstschwelle im Volk gesenkt wurde. Das Volk wünscht sich Erdogan und seine AKP weg. Es sieht so aus, als würden die wirklichen Ergebnisse der Gezi-Bewegung nach den Wahlen am 7. Juni in Erscheinung treten. Denn die Forderungen der Einzelbewegungen des Gezi-Aufstandes haben in der HDP Gestalt angenommen und gebündelt und werden die wahre Veränderung mit sich bringen.

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