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Was haben Ultras aus Deutschland und Istanbul gemeinsam?

Suphi Sert

Egal ob in Istanbul, Rio und Kairo: Fußballfans kämpfen bei den Protesten immer ganz vorne mit. Doch hier in Deutschland gelten sie als Kriminelle und Störenfriede.

Hierzulande müssen sich extreme Fußballfans vor der Polizei nackig machen, sich im Anal- und Genitalbereich untersuchen lassen. Dies, weil sie bei einem Fußballspiel verdächtig aussehen, wie im Fall von zwei jugendlichen Männern aus Südhessen „zum Zwecke der Gefahrenabwehr“, ohne Ergebnis. Wenn 17-jährige sich einer Nacktkontrolle vor einem Drittligaspiel unterziehen lassen müssen, gibt es keine Reaktion seitens der Bevölkerung, kein Aufschrei oder Protest. Aber Nacktscanner wollten wir alle an deutschen Flughäfen nicht haben, weil dies unsere Bürgerrechte einschränkt? Sorry, aber wenn jemandem im Analbereich rumgefummelt wird, weil man vor einem Fußballspiel verdächtig aussieht, dann passiert hier viel mehr, als nur Bürgerrechte einzuschränken.

Fangruppen sind immer verdächtig, gewaltbereit und gefährlich zu sein. Ultras seien das größte Problem des Fußballs jetzt und in der Zukunft, so Alfred Draxler, Chefredaktion der Bild. Aber Tatsache ist, dass man mit den Ultras Angst schüren kann oder sie aus einer anderen Perspektive betrachtet: Vielleicht als eine politisierte Jugend, welche ja eigentlich nicht existieren dürfte, nach den gutbürgerlichen Parteien und vor allem der „Meinungsmacher“ Bild.

Nicht nur „Ziviler Ungehorsam“

In Istanbul, bei den Protesten auf dem Taksim-Platz und im Gezi-Park wurden die Ultras, der großen Fußballclubs zu Helden und zeigten zivilen, politischen Ungehorsam. Vor allem die „Çarşı-Ultras“, der Stadtteilklub von Beşiktaş ist seit Beginn der Proteste gegen die Regierung Erdogan mit ihren politischen Forderungen nicht mehr aus der Protestbewegung wegzudenken. Sie organisierten sich gemeinsam mit dem „Volkswiderstand“ und den Ultras anderer Fußballclubs Seite an Seite, ohne zwischen Religion, Herkunft, politische Gesinnung oder -für ein Fussballfan wahrscheinlich das A und O einer guten Freundschaft- dem Fussballverein zu unterscheiden. Genau wie die Bürgerbewegung selbst es nicht macht, sich spalten zu lassen. Sie formierten sich so, dass sie an einigen Orten die Demonstranten schützten, Polizeiketten sprengten und andere zum zivilen Ungehorsam aufriefen.

Anhand von Brasilien sehen wir auch, dass Fußball politisch war und ist. Denn Hunderttausende protestieren momentan gegen überteuerte Stadien, gegen falsche Investitionen und für eine bessere Bildungsmöglichkeit im eigenen Land. Die Ultras des Kairoer Hauptstadtclubs al-Ahly in Ägypten nahmen beispielsweise auch an vorderster Front an der ägyptischen „Revolution“ bis zum Sturz des Mubarak-Regimes teil. Es gibt viele Beispiele, aber wie schaut es im eigenen Land aus? Schließlich gibt es auch hier Ultras jeglicher Fussballvereine!

Die Fußballfanszene umfasst viele Jugendliche, welche man als ein Teil einer Jugendbewegung sehen kann. Denn es gibt viele Jugendliche unter ihnen, die wirklich etwas wollen, nicht nur im Fußball, sondern auch außerhalb der Stadien. Verschiedene Forscher, wie der Fanforscher und Politologe Jonas Gabler von der Uni Hannover sieht diese Fangemeinde als jugendliche Protestbewegung an, welche sich, für „den Schutz der Freiheits- und Bürgerrechte und gegen die Ökonomisierung aller Lebensbereiche starkmacht“. Es steckt in dieser Bewegung „enormes Potenzial für eine ernstzunehmende Politisierung“. Was fehlt, scheint ein großer „gesellschaftlicher Impuls“, wie wir ihn in Istanbul, Ägypten oder Brasilien vorgefunden haben. Denn vor allem junge Ultras scheinen sozial sehr sensible Menschen zu sein mit dementsprechenden Berufen. So, wie auch die jugendlichen Fans in den anderen Ländern. Die jungen Ultras sind in ihrer Verhaltensweise ähnlich eines politischen Protests, welche aber durch verschiedene Jugendkulturen eine immer fortschreitende Form angenommen hat. Was so viel heißen soll wie, sich auch kritisch mit den Sponsoren der eigenen Mannschaft auseinander zu setzen, um politische und soziale Konflikte und Widersprüche zu verbalisieren, die über den Fußball hinausgehen. Beispielsweise „in Bremen war der Ärger groß, als der Geflügelkonzern Wiesenhof als neuer Sponsor vorgestellt wurde. Wiesenhof steht wegen seiner Massentierhaltung in ständiger Kritik. In Nürnberg wehrten sich die Fans nach Fukushima gegen den französischen Atomkonzern Areva, der von den rot-schwarzen Shirts strahlte“. Hier wurde der Widerstand auch außerhalb der Fußballstadien wahrgenommen und unterstützt. Jedoch wird hierzulande jegliche Protestbewegung oder –kultur immer wieder kriminalisiert. Was nicht bedeuten mag, beim Fußball gibt es kein Ärger, kommt es nie zu Schlägereien. Betrachtet man die Zahlen, sieht es aber schon komisch aus: „Saison 2010/2011 kamen auf 17,5 Millionen Zuschauer in der ersten und zweiten Bundesliga 846 Verletzte“. Das soziale Engagement der Ultras kommt aber nie in Berichten vor, wie in Jena. Hier haben sich Ultras mit diversen Initiativen erfolgreich gegen ein „Fest der Völker“, welches von nationalistischen Gruppen ausgerichtet wird, gewandt.

Zudem redet keiner darüber, dass die Polizei an Spieltagen die Ultras und Fans als Experimentierfeld nutzt. Um den Umgang mit Protesten zu trainieren, wie bei Stuttgart 21 oder den Blockupy-Demonstrationen. Wir warten gespannt auf den Tag, in dem auch in Deutschland politisierte Fussballfans gesellschaftliche Anerkennung finden, wenn sie ihre Stimmen gegen soziale und politische Ungerechtigkeiten erheben.

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