Der türkische Mafiaboss Sedat Peker setzte sich letztes Jahr ins Ausland ab. Am 9. April durchsuchten Polizisten seine Wohnung in Istanbul, bei weiteren Razzien in fünf Städten wurden viele seiner Bandenmitglieder festgenommen. Daraufhin hatte Peker angekündigt, seine engen Kontakte und Machenschaften mit führenden Politikern, Sicherheitsbeamten und weiteren Personen in oberster Staatsführung offenlegen zu wollen. Seit Anfang Mai 2021 veröffentlichte er auf seinem YouTube-Kanal bis heute 8 Videos, die insgesamt über 90 Mio. mal aufgerufen wurden. Er berichtet von seinen illegalen Kontakten zu Spitzenpolitikern aus der Regierungspartei AKP, ihren früheren Regierungschefs und Ministern, türkischen und aserbaidschanischen Unternehmern sowie Spitzenvertretern aus Medien, Militär und Sicherheitskräften. Nachdem seine Verhandlungsbemühungen erfolglos blieben, erklärte er in seinem vorerst letzten Video, dass er im nächsten Video auch seine Kontakte zu Erdoğan offenlegen werde.
Wer ist Sedat Peker?
Warum sind die Auswirkungen der Enthüllungen eines Mafiabosses so tiefgreifend? Der im Jahre 1971 geborene Mafiaboss war bereits in jüngsten Jahren in kriminelle Machenschaften verwickelt und bereits Ende der 1980er Jahre zu einem der wichtigsten Mafiapaten aufgestiegen. Anfang der 1990er Jahre wurde er von der damaligen Militär- und Polizeiführung bei ungesetzlichen Aktivitäten des Staates eingesetzt. Ihm werden politische Morde und Einschüchterung zugeschrieben. Im so genannten Susurluk-Prozess wurde er zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Bei diesem Prozess, der den Namen von dem kleinen Städtchen Susurluk bekam, wurde in den 1990er Jahren ein Skandal aufgearbeitet. Bei einem Verkehrsunfall verstarben Vertreter aus Politik, Sicherheitskräften und Unterwelt in einem Fahrzeug und tiefe Beziehungen des „tiefen Staates“ wurden aufgedeckt. Schon damals hatte der Staat kriminelle Mafiabanden für seine terroristischen Machenschaften eingesetzt. Der Prozess wurde aber auch von einer starken Protestwelle der Öffentlichkeit sowie parlamentarischen Untersuchungsausschüssen etc. begleitet. Peker konnte sich vor seiner Verhaftung nach Rumänien absetzen, allerdings wurde er 1998 an die Türkei ausgeliefert, wo er wegen organisiertem Verbrechen für neun Monate ins Gefängnis musste. 2005 wurde er wegen „Gründung und Führung einer kriminellen Organisation“ erneut zu einer fast 15-jährigen Freiheitsstrafe verurteilt, das Strafmaß jedoch im Berufungsverfahren auf 1 Jahr und drei Monate heruntergesetzt.
Von „Gülen-Anhänger“ zu „hilfsbereiter Unternehmer“
Im so genannten „Ergenekon-Prozess“ von 2012, bei dem Erdoğan in Kooperation mit der Gülen-Bewegung eine Säuberung in der Führungsebene des Staats-, Justiz- und Militärapparats durchführte, wurde auch Sedat Peker wegen „Mitgliedschaft in einer bewaffneten Organisation“ zu 10 Jahren Haft verurteilt.
Wenige Jahre später endete die Partnerschaft von Erdoğan und Gülen. Nun wurden diejenigen, die durch die damals von der Gülen-Bewegung dominierte Justiz als „Landesverräter“ verurteilt worden waren, rehabilitiert. Zu ihnen gehörte auch Sedat Peker, der nun als „hilfsbereiter Unternehmer“ in Regierungskreisen und AKP-freundlichen Medien wie ein Star gefeiert wurde. Er posierte nicht nur auf gemeinsamen Fotos mit Erdoğan und seinen Ministern, sondern organisierte auch Kundgebungen, auf denen er Wahlkampfunterstützung für die AKP betrieb. Auf diesen Kundgebungen drohte er den „Friedensakademikern“, die mit einer Resolution für eine friedliche Lösung der Kurdenfrage eintraten, damit, sie in ihrem eigenen Blut zu baden und ihre Unterstützer in der Politik und den Medien an Fahnenmasten aufzuhängen. Die AKP-Anhänger forderte er offen auf, sich zu bewaffnen. Diese Drohungen wurden von der Justiz als freie Meinungsäußerung eingestuft und Peker von der obersten AKP-Führung in Schutz genommen.
2020 vertieften sich die Interessenskonflikte zwischen der Regierung und den Mafia-Strukturen. Im Zuge der Neustrukturierung kündigten die Kreise, die bis dahin Sedat Peker für ihre Interessen eingesetzt hatten, ihre Zusammenarbeit mit ihm auf. Die nationalistische MHP erhöhte den Druck auf ihren Bündnispartner und sorgte dafür, dass Pekers Konkurrent Alaattin Cakici, der der MHP nahesteht, aus der Haft zu entlassen wurde. Führende Politiker, darunter auch der Innenminister Süleyman Soylu und Bürokraten, die bis dahin auf Peker gesetzt hatten, schickten ihn im Januar 2020 ins Ausland, wo er eine Zeit lang untertauchen und abwarten sollte. So reiste er ein Jahr durch Nordmazedonien, Serbien, Albanien. Im April letzten Jahres versuchte man dann doch wieder mit einer Geheimdienstoperation in die Türkei zu entführen. Zugleich gab man den Startschuss für die Ermittlungen gegen seine Leute in der Türkei. Daraufhin setzte sich Peker nach Dubai ab und begann mit seinem Rachefeldzug gegen seine früheren „Freunde“, denen er „Verrat und Betrug“ vorwarf.
Abrechnung mit Erdogan?
Der Staatspräsident stand zunächst nicht im Visier von Peker. Im Gegenteil bat ihn der Mafiaboss unterschwellig um Vermittlung, verwies aber auch darauf, dass er auf jeden Fall Kenntnis von Allem besitze. Pekers Hinweise auf die wirtschaftlichen Aktivitäten von Erdoğans Kindern, die durch ihre unrechtmäßigen einen unermesslichen Reichtum anhäufen konnten, werden als Wink mit dem Zaunpfahl gedeutet.
Als er erkannte, dass Erdoğan keinen Deal einzugehen bereit ist, verwies Peker immer öfter auf die Verbindungen zwischen der Erdoğan-Familie und den fünf größten Baufirmen in der Türkei, die in der Regierungszeit der AKP zu den größten Konzernen der Türkei aufstiegen. In seinem letzten Video warf Peker den engsten Beratern Erdoğans vor, die Al-Nusra-Front in Syrien und andere terroristische Gruppen mit Waffen ausgerüstet zu haben und in Schmuggelgeschäfte im Norden Syriens verwickelt zu sein.
Pekers Enthüllungen
Peker nennt in seinen Enthüllungen illegale Aktivitäten, die er gemeinsam mit führenden Politikern und Armee- und Polizeifunktionären durchgeführt habe. Bis heute hat er einige wenige Beispiele ausgepackt. Zusammenfassend geht es um folgende Namen und Vorwürfe:
Süleyman Soylu: Peker verweist auf seine seit 20 Jahren bestehende Unterstützung für den amtierenden Innenminister Soylu bei seinem politischen Aufstieg. Im Gegenzug habe dieser ihm Polizeischutz gewährt. Ferner habe Soylu ihm und seinem Umfeld freies Geleit bei ihren wirtschaftlichen Aktivitäten und dem Drogenhandel gegeben.
Berat Albayrak: Der Schwiegersohn des Staatspräsidenten Erdoğan war lange Jahre Energie- und Finanzminister. Er gilt als Führer der Interessensgruppe „Pelikancılar“ in der AKP. Der Gruppe werden Bestechung, Waffenschmuggel und ungesetzliche Aktivitäten im Energiesektor vorgeworfen. Die Gruppe habe enge Kontakte zu Kapitalgruppen in Aserbaidschan, die sie auch bei der unter dem Vorwand von Gülen-Nähe durchgesetzten Enteignung von großen Konzernen in der Türkei einsetze.
Binali Yıldırım: Der ehemalige Minister- und Parlamentspräsident sowie AKP-Chef Yıldırım gilt als engster Weggefährte Erdoğans. Er habe bei allen Machenschaften der Erdoğan-Familie seine Finger im Spiel. In einem seiner Videos wirft Peker dem Sohn von Yıldırım vor, Drogengeschäfte in Venezuela eingefädelt zu haben.
Mehmet Ağar: Ağar war in den 1990er Jahren Chef der türkischen Polizei und wurde später Innenminister. In dem Susurluk-Skandal war er eine der Schlüsselfiguren und wurde in einem Schauprozess zu einer mehrmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt. Ağar ist bekannt für die terroristischen Methoden, die er in der kurdischen Frage einsetzte. Durch sein Netzwerk in der Polizei, in das er Mafiabosse wie Cakici aufnahm, erpresste er Unternehmer und übernahm viele Unternehmen wie den Yachthafen von Bodrum. Peker beschuldigt Ağar, für die Morde an den Journalisten Uğur Mumcu und Kutlu Adali verantwortlich zu sein. Peker beschuldigt seinen Sohn Tolga Ağar, der der AKP-Fraktion im aktuellen Parlament angehört, eine Studentin vergewaltigt und anschließend ermordet zu haben. Mehmet Ağar soll für die Vertuschung dieser Verbrechen gesorgt haben.