Bei den jüngsten Kommunal- und Integrationsratswahlen in Nordrhein-Westfalen erzielte die AfD Ergebnisse, die noch vor wenigen Jahren undenkbar schienen. In Städten wie Duisburg, Bottrop oder Gelsenkirchen erreichten ihre Listen bei Integrationsratswahlen den zweiten Platz, in Hagen wurde die AfD-Liste sogar stärkste Kraft bei den Integrationswahlen – und das in Gremien, die von Migranten selbst gewählt werden. Unter den AfD-Kandidaten -auch für die Stadt- und Gemeinderäte- fanden sich dabei auffallend viele mit türkischem, russischem oder südosteuropäischem Namen.
Oktay Demirel
Wie ist es möglich, dass Menschen, die selber oder deren Eltern einst Ziel rassistischer Praxis waren und bis heute noch sind, nun eine Partei unterstützen, die „Remigration“ fordert, teilweise offen völkisch-rassistisch argumentiert und gegen Einwanderung mobilisiert? Antworten sind jenseits moralischer Empörung zu suchen, wenn man den Kern des Problems erfassen möchte.
Klassenlage statt „Identität“
Die zweite und dritte Migrantengeneration in Deutschland bildet längst kein einheitliches Milieu mehr. Viele haben ökonomisch aufgeschlossen: ein kleiner Betrieb, ein Haus, ein sicherer Job im öffentlichen Dienst oder in der Industrie, ein Hochschulabschluss. Doch dieser Aufstieg ruht auf wackligem Fundament – niedrige Löhne, hohe finanzielle Belastung, ständige Abstiegsangst und das trotz Arbeit.
Ihre Herkunft und kulturelle Prägung spielen dabei durchaus eine Rolle, das Denken und Handeln erklärt sich aber aus den realen Lebensbedingungen: Wer über Statussymbole verfügt, entwickelt daraus Werte und politische Erwartungen. Viele Migranten gehören zur unteren Mittelschicht oder haben sich als qualifizierte Facharbeiter oder Akademiker zur Mittelschicht hochgearbeitet. Sie haben genug, um Angst zu haben, dieses zu verlieren, aber zu wenig, um sich sicher vor Abstieg zu fühlen. Daraus entsteht ein besonderes Bewusstsein: Man gilt als „integriert“, man ist „angekommen“, aber nicht etabliert oder anerkannt. Umso stärker will man sich beweisen: durch Abgrenzung von denen, die jetzt unter einem stehen, auf die man nach unten spucken kann: Syrer und Bulgaren.
Konkurrenz als Systemprinzip
Die kapitalistische Gesellschaft organisiert Integration und Migration nach ökonomischer Verwertbarkeit: Fachkräfte, Arbeitsmigranten, Geflüchtete, EU-Bürger, Mindestlöhner, Arbeitslose. Diese Hierarchien reproduzieren sich auch innerhalb migrantischer Gruppen. Wer „angekommen“ ist, verteidigt seinen Platz – auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt oder im Bildungssystem.
Wenn die soziale Infrastruktur überlastet, Wohnungen und Kita-Plätze knapp und Lebensmittelpreise hoch sind, erscheint jeder Neuankömmling als Konkurrent. Diese Wahrnehmung ist kein irrationaler „Fremdenhass“, sondern das Resultat realer Knappheit, die durch neoliberale Politik bewusst produziert wird. Jahrzehntelange Privatisierungen, Arbeitslosigkeit, Bürgergeld, fehlende kommunale Investitionen – sie erzeugen Angst und Solidarität wird schwierig. Diese Angst erlebten die Menschen im Osten vor 35 Jahren und jetzt hat sie auch den Westen erreicht, aber mit einer Wucht, wie man sich das nicht hätte vorstellen können.
Die AfD bietet hier eine scheinbar einfache Lösung: Sie identifiziert nicht den Kapitalismus als Ursache der Konkurrenz, sondern die Geflüchteten selbst – und findet paradoxerweise in Teilen von Migranten ebenfalls Zustimmung, weil diese sich nicht mehr als „Fremde“, sondern als Teil der etablierten Bevölkerung begreifen.
Von der Integration zur ökonomischen Instabilität
„Integration“ bedeutete selten gleiche Rechte, sondern eher Anpassung: an Sprache, Werte, Verhalten. Viele der heute 40- bis 50-jährigen Kinder von „Gastarbeitern“ haben diese Forderung erfüllt – sie sprechen perfekt Deutsch, zahlen Steuern, ihre Kinder studieren. Doch sie wissen auch: Vollständig akzeptiert sind sie nie. Dieses ständige „Noch-nicht-Dazugehören“ erzeugt eine doppelte Bewegung: Man wendet sich der Mehrheitsgesellschaft zu und gegen jene, die vermeintlich das eigene Bild als „erfolgreicher Migrant“ beschädigen – Geflüchtete, arme EU-Zuwanderer, Moslems. Es entsteht ein falsches Bewusstsein, in dem soziale Widersprüche in kulturelle Feindbilder kanalisiert werden.
Die AfD hat diese Dynamik längst erkannt. Ihr Diskurs hat sich verschoben: Neben völkischer Reinheitsrhetorik bietet sie kulturell-konservative Erzählungen, die in migrantischen Milieus anschlussfähig sind. Sie inszeniert sich als Verteidigerin traditioneller Familienwerte, als Gegnerin einer „liberalen Elite“, als Stimme der kleinen Selbstständigen und Arbeiter.
Für viele Migranten wirkt diese Mischung vertraut: konservativ, patriarchal, ordnungsliebend – und gleichzeitig rebellisch gegen das Establishment. Die Denkweise „Die meinen uns nicht, wenn sie von Remigration sprechen“ erfüllt dabei eine besondere Funktion: Sie entlastet das Gewissen und erlaubt Zustimmung, ohne sich selbst infrage zu stellen.
Ethnisierte Klassenpolitik
In Ruhrgebietsstädten wie Essen, Duisburg oder Bottrop, haben AfD-nahe Listen bei Integrationsratswahlen mit Kandidaten gearbeitet, die selbst migrantische Biografien haben. Damit wird ein alter Mechanismus des Kapitalismus sichtbar: Die herrschende Ideologie benötigt Vermittlerfiguren, um Klassenherrschaft zu stabilisieren.
Diese „integrierten Migranten“ vertreten kleine Geschäftsinteressen, propagieren Ordnung und Distanz zu den „Problemgruppen“ und präsentieren sich als Beispiel gelungener Integration. Ihre Loyalität zur AfD ist Ausdruck eines Klasseninteresses – nämlich des Wunsches, sich nach unten abzugrenzen, während man selbst nach oben ausgeschlossen bleibt, typisch auch in der „deutschen Mittelschicht“.
Moral versus materielle Stellung
Die Reaktion auf diese Entwicklung ist meist moralisch: Wie können Migranten eine Partei wählen, die sie abschieben will? Sozialdemokratische und grüne Programme sprechen aber nur noch akademische Milieus in Großstädten an, die einen festen gesellschaftlichen Stand haben. Wer von der „Integrationspolitik“ weder materiell noch symbolisch profitiert, sucht neue Ausdrucksformen – und findet sie, wenn auch in verzerrter Form, bei der Rechten. Die AfD bietet nicht nur Hass, sondern auch Anerkennung – sie spricht Migranten an, die sich als „Leistungsträger“ verstehen und sich vom „Sozialstaat für andere“ distanzieren wollen. Will man diese Tendenz umkehren, reicht antirassistische Aufklärung allein nicht aus. Notwendig ist, deutlich zu machen, welche Klasseninteressen die Subjekte in der Gesellschaft haben. Bezahlbarer Wohnraum, Bildung, kommunale Daseinsvorsorge, Gesundheit, Freiheitsrechte. Nur wenn migrantische und nichtmigrantische Arbeiter erkennen, dass ihre Probleme gemeinsame Ursachen haben – Lohnsenkung, Prekarisierung, Ausgrenzung, können sie aktiv dagegen vorgehen.
Der Erfolg der AfD unter Teilen der zweiten und dritten Migrantengeneration ist kein Zufall, sondern das Produkt einer falschen Kanalisierung der Probleme. Die Opfer gesellschaftlicher Ausgrenzung übernehmen die Sprache ihrer Unterdrücker, weil sie glauben, damit ihre Position zu sichern. Doch solange die materiellen Ursachen – Ungleichheit, Konkurrenz, sozialer Abstieg – bestehen, wird jedes moralische Appell verpuffen.
Die Aufgabe einer linken Politik besteht deshalb nicht darin, Migranten zu belehren, sondern ihnen ein besseres Angebot zu machen: eines, das soziale Sicherheit mit gesellschaftlicher Teilhabe und Sicherheit verbindet und zeigt, dass die Missstände nicht kulturell oder religiös bedingt sind, sondern ein sozioökonomisches Problem darstellen.

