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Wer entscheidet über „Schuld“ und „Strafe“?

Ihsan Caralan

Als die Regierung vor zwei Monaten den Ausnahmezustand verhängte, erklärte Ministerpräsident Yıldırım, Freiheitsrechte würden nicht angetastet. Die Entwicklungen bezeugen jedoch etwas anderes. Seitdem wurden Hunderte von Friedensaktionen, Pressekonferenzen, Arbeitskämpfe, Kundgebungen etc. von der Polizei mit Hinweis auf das herrschende Ausnahmezustandsrecht verboten. Proteste wurden unter brutaler Polizeigewalt aufgelöst, Demonstranten festgenommen. Mit einer so genannten Rechtsverordnung mit Gesetzeskraft („Kanun Hükmünde Kararname“, KHK) wurden 28 Kommunen unter Zwangsverwaltung gestellt. Die als neue Bürgermeister ernannten Landräte und Gouverneure sprachen in diesen Kommunen ein unbeschränktes, totales Verbot für alle Aktionen und Aktivitäten aus. Mit weiteren „KHK“s verbot die Regierung Zeitungen, sie entließ knapp 100.000 Mitarbeiter aus dem öffentlichen Dienst. Tausende Menschen, darunter viele Beamte, Journalisten, Intellektuelle, Arbeiter, Studenten, Soldaten etc. wurden ohne notwendige Ermittlungen festgenommen und verhaftet. Der Vorwurf lautete stets gleich: Beteiligung am Putschversuch, Unterstützung der Terrororganisation FETÖ.

Die Regierung definiert die „Schuld“ und die „Sühne“

Vor dem Hintergrund dieser „Rechtsverstöße“, bei denen die KHKs als Rechtsgrundlage dienen, wird unweigerlich die Frage aufgeworfen, welche Behörde eine Aktivität oder Aktion als „Verbrechen“ definiert. In jedem mehr oder weniger demokratischen Land werden die Schuld und das Strafmaß von der Justiz definiert. Auch in der Türkei wird dies vom derzeit geltenden Grundgesetz so festgeschrieben. Es gab zwar auch vor dem Putschversuch vom 15. Juli diesbezügliche Probleme. Allerdings ist seit der Verhängung des Ausnahmezustands jeder der Willkür von Regierungsbehörden ausgeliefert. Einwände, dass auch viele unbescholtene Bürger von den Entlassungen und Inhaftierungen betroffen sind, werden mit der Floskel abgewürgt, man werde Fehlern nachgehen und sie bei Bedarf ausbügeln. Das Verhältnis von „Schuld“ und „Sühne“ wird nach einer Rechtslogik aufgestellt, wie wir es aus dem Mittelalter kennen.

Hier zwei aktuelle Beispiele dafür:

Im ersten Fall erließ der Bildungsdirektor im Landkreis Keçiören bei Ankara ein Dekret. Darin forderte er alle Schulleiter auf, „die Mitarbeiter, die die Terrororganisation PKK unterstützen oder solche, bei denen nach eigenem Ermessen die Einschätzung entstand, dass sie auf jeden Fall zu suspendieren sind“ dem Bildungsdirektorat mitzuteilen.

Im zweiten Fall stellte das Bildungsdirektorat Adıyaman Anzeige bei der Staatsanwaltschaft und suspendierte 25 Lehrer. Es hatte den Lehrern vorgeworfen, an einer Protestaktion gegen den IS teilgenommen zu haben. Die Staatsanwaltschaft wies zwar die Klage ab. Allerdings war nach Ansicht des Bildungsdirektorats und der Regierung die Teilnahme an einer solchen Demonstration eine Straftat. Die Suspendierung war die erste Stufe ihrer Strafe und wenn die KHKs befolgt werden, sollen weitere folgen.

Die AKP stellt die Judikative in den Dienst von Exekutive

Können diese beiden „lokalen“ Beispiele als „Werk von Kommunalverwaltungen“ abgetan werden? Natürlich kann man das nicht. Wenn wir uns Pressemeldungen oder die große Zahl von Menschen betrachten, die sich als Betroffene an CHP oder MHP wenden, sehen wir, dass es weitere unzählige Betroffene gibt.

Wir erleben derzeit, wie die Regierung die Exekutive an die Stelle der Judikative setzt. Die Debatte darüber, von wem ein Verbrechen definiert und das Strafmaß dafür bestimmt wird, tangiert aus nächster Nähe die Unabhängigkeit der Justiz. Und die AKP versucht im Rahmen der Verhandlungen, über eine Verfassungsänderung, die sie mit der CHP und MHP führt, dieses antike Rechtsverständnis durchzusetzen.

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