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„Wer Politikwechsel will, muss Linke wählen!“

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Sevim Dağdelen kandidiert zum 3. Mal für den Bundestag und hat unsere Fragen bezüglich ihrer Kandidatur und ihren Erwartungen beantwortet.

 

Neues Leben (NL): Du kandidierst zum dritten Mal für den Deutschen Bundestag. Was sind deine Erwartungen?

Dağdelen: Um es mit Che Guevara auszudrücken: „Seien wir realistisch, versuchen wir das Unmögliche“. In den letzten Umfragen lagen wir bundesweit immer bei etwa 8 bis 9 Prozent. Da ist aber durchaus noch Spielraum nach oben möglich. Uns muss es in den nächsten Wochen noch mehr gelingen, das Missverhältnis zwischen der sozialen Ungerechtigkeit und dem sehr wohl vorhandenen Verdruss der Menschen darüber und dem Zuspruch für DIE LINKE zumindest bei Wahlen zu beheben. Wir müssen und werden auch deutlicher machen müssen, dass es uns nicht schlechthin nur um einen Regierungswechsel, sondern um einen tatsächlichen Politikwechsel geht. Wer einen tatsächlichen Politikwechsel will, kann nicht SPD und Grüne, sondern muss Die Linke wählen.

 

NL: Du hast die Schwerpunkte Außenpolitik und Migration. Was hat Sevim Dağdelen in diesen Punkten bisher erreicht?

Dağdelen: Nun, namens der Fraktion habe ich z.B. beim Ehegattennachzug bzw. der Familienzusammenführung und beim EU-Türkei-Assoziationsrecht einiges erreicht. Seit 2007 ist „dank“ SPD und CDU der Familiennachzug von nicht-deutschen Ehegatten und LebenspartnerInnen erheblich erschwert. Bereits vor einer Einreise nach Deutschland müssen die Betroffenen deutsche Sprachkenntnisse im Ausland erwerben. Dies führt zu unerträglich langen Trennungszeiten. Erst durch mich wurde eine entsprechende Stellungnahme der EU-Kommission aus dem Niederländischen ins Deutsche übersetzt und dadurch musste das Bundesverwaltungsgericht 2011 seine Meinung ändern und mögliche Konflikte mit EU-Recht einräumen. Darüber hinaus hat die EU-Kommission gegen Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren wegen der Sprachanforderungen beim Ehegattennachzug eingeleitet. Ich werde der EU-Kommission in Kürze hierzu erneut umfangreiches Argumentationsmaterial zur Verfügung stellen, denn die Ausführungen der Bundesregierung kommen in Augen der LINKEN einer Täuschung der Kommission gleich.

Auch das EU-Türkei-Assoziationsrecht war der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt. Für die große Gruppe türkischer Migrantinnen und Migranten birgt dieses jedoch erhebliche Rechte! Letztlich könnte sich in der Rechtsprechung erweisen, dass alle maßgeblichen Verschärfungen im Aufenthaltsrecht der letzten Jahre auf diese größte Migrantengruppe in Deutschland nicht anwendbar sind – teilweise musste die Bundesregierung dies bereits einräumen.

Außenpolitisch hingen meine Schwerpunkte mit den rasanten Änderungen und der weiteren Militarisierung der EU und ihrer Sicherheitspolitik zusammen. Hier galt es in der letzten Wahlperiode, die Entstehung des Europäischen Auswärtigen Dienstes kritisch zu begleiten und über die häufig zwar kleinen, aber durchaus fatalen EU-Militäreinsätze zur Ausbildungs- und Ausstattungshilfe, etwa im Irak, Afghanistan, Somalia oder Niger zu informieren. Das sind Einsätze, die sehr im Verborgenen stattfinden und die man schon empfindlich stören kann, wenn man darüber regelmäßig Informationen einfordert und veröffentlicht. Das war auch innerhalb der Fraktion hilfreich, um dazu einen klareren gemeinsamen Standpunkt zu finden. Außerdem haben wir uns gegen eine weitere Aufweichung des Völkerrechts unter dem Schlagwort der „Schutzverantwortung“ gewehrt und wenn neue Interventionen gedroht haben, versucht, die damit stets einhergehenden Kriegslügen zu entlarven – v.a. gegenüber dem Iran, Libyen und Syrien.

 

NL: Außenpolitisch verschärft sich die Situation in Syrien. Was willst du machen, wenn es zu einem Angriff kommt?

Dağdelen: In jedem Fall müssen wir dann eine Massenmobilisierung versuchen, auch wenn das gerade schwierig scheint; aber die Gefahren eines solchen Angriffs sind das wirklich wert. Auch hier müssen wir uns darum kümmern, dass die Wahrheit ans Licht kommt und auch im Nebel des Krieges nicht vergessen wird. Die NATO-Staaten und ihre Partner können nicht jahrelang einen Bürgerkrieg befeuern, unterschiedliche Fraktionen bewaffnen, und dann kommen, und sich als Retter aufspielen. Hier müssen wir v.a. die Türkei im Auge behalten und mit der dortigen Opposition zusammenarbeiten, die große Sorge hat, in einen Krieg in Syrien hineingezogen zu werden. Hinzu kommt, dass der Bundeswehreinsatz in der Türkei auf dreisten Lügen und Manipulationen beruht. Im Falle einer weiteren Eskalation müssen wir das skandalisieren und allein, dass die Bundesregierung weiß, dass wir das können, macht sie hoffentlich schon etwas vorsichtiger. Um auch für die Zukunft solche Eskalationsdynamiken zu vermeiden, müssen wir außerdem unsere Forderungen nach einem Austritt aus der NATO intensivieren.

 

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NL:  Migranten haben das Vertrauen in den deutschen Staat verloren, siehe NSU-Skandale. Welche konkreten Massnahmen könnten das Vertrauen wiederbringen?

Dağdelen: Die Nebenklägeranwälte im NSU-Verfahren üben scharfe Kritik am Abschlussbericht des Bundestagsuntersuchungsausschusses zur rechten Terrorgruppe. Das „entscheidende Problem“ werde nämlich „nicht benannt“: „institutioneller Rassismus.“ Die Vertreter der Opfer des NSU haben recht. Der Kern des Problems wird nicht analysiert. Der Untersuchungsausschuss geht gar von einem „Staatsversagen“ aus.  Kann man hier von Staatsversagen sprechen? Oder springt einen nicht aus zahlreichen Akten eine beispiellose Kumpanei von Sicherheitsbehörden und NSU-Terroristen förmlich an? Aber man war ja offenbar nicht einmal bereit, zuzugestehen, dass das systematische Versagen der Ermittlungsbehörden auf institutionellem Rassismus beruhte, geschweige denn, dass es ein staatlich be- und geförderter Rechtsterrorismus war. Die Nachrichtendienste sind nicht Teil der Lösung, sondern Teil des neonazistischen Problems. Die Geheimdienste und die Polizei hatten und haben bereits Mühe ihre braune Vergangenheit aufzuarbeiten. Noch weniger Interesse haben sie an der braunen Gegenwart. Sie gehören aufgelöst, so wie die NPD und Naziorganisationen verboten werden müssen! Das wären aus meiner Sicht schon mal konkrete Maßnahmen. Noch wichtiger ist natürlich, den Neonazis den ideologischen Nährboden entziehen. Das bedeutet, den in der Mitte der Gesellschaft verankerten Rassismus  zu bekämpfen und die soziale Diskriminierung generell und speziell von Migrantinnen und Migranten zu beenden. Durch ihre Politik der Nichtanerkennung von Migrantinnen und Migranten als gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger senkt die Bundesregierung die Hemmschwelle für Rassisten und Neonazis, diese anzugreifen. Der bereits im Oktober 2008 verabschiedete Nationale Aktionsplan gegen Rassismus lässt nach wie vor konkrete, umsetzbare und messbare Ziele weitgehend vermissen. Ein kleiner Schritt in Sachen Anti-Rassismus wäre, dem Aktionsplan gegen Rassismus endlich einen konkreten Handlungscharakter zu geben.

 

NL: Reichtum und Armut ist ein großes Thema in der Welt, vor allem auch in Deutschland. Ist Mindestlohn und Millionärssteur die Lösung?

Dağdelen: Mit Sicherheit nicht DIE Lösung; aber zumindest ein Schritt in die richtige Richtung. Denn das private Nettovermögen hat sich nach Regierungsangaben allein zwischen 2007 und 2012 um 1,4 Billionen Euro erhöht. Hinter diesen Zahlen steckt aber eine sehr ungleiche Verteilung der Privatvermögen. Die vermögensstärksten zehn Prozent der Haushalte vereinen über die Hälfte des gesamten Nettovermögens auf sich. Der Anteil dieses obersten Zehntels ist dabei in der Zeit stetig gestiegen. Belief er sich 1998 auf 45 Prozent, waren es 2008 bereits mehr als 53 Prozent des Nettogesamtvermögens. Die ärmsten 50 Prozent der Haushalte verfügen lediglich über 1 Prozent des gesamten Nettovermögens, während die reichsten 10 Prozent über die Hälfte des Nettovermögens verfügen. Hier zeigt sich eine einfache Tatsache: Die Armut der vielen geht einher mit dem Reichtum von wenigen. Wer etwas gegen Armut unternehmen will, der darf zum Reichtum nicht schweigen. Deswegen will Die Linke Millionäre, Spekulanten und Konzerne zur Kasse bitten. Wenn die Vermögenssteuer als Millionärsteuer mit einem persönlichen Freibetrag von einer Million Euro, einem zusätzlichen Freibetrag auf Betriebsvermögen von fünf Millionen Euro sowie einem Steuersatz von 5 Prozent wieder erhoben würde, können jährliche Mehreinnahmen von 80 Milliarden Euro erzielt werden. Damit könnten mehr Kita-Plätze, bessere Schulen und eine gute öffentliche Daseinsvorsorge finanziert werden.

Große Unterschiede gibt es auch bei der Lohnentwicklung. Während sie im oberen Bereich in Deutschland positiv steigend ist, haben die unteren 40 Prozent der Vollzeitbeschäftigten nach Abzug der Inflation Verluste beim Lohn hinzunehmen. Auch gab es einen Anstieg von Teilzeit- und Minijobs, Leiharbeit oder befristeten Stellen. Stundenlöhne, die selbst bei Vollzeit zur Sicherung des Lebensunterhalts eines Alleinstehenden nicht ausreichen, verschärfen Armutsrisiken. Aber es darf doch nicht sein, dass Menschen nicht von ihrer Arbeit leben können. Wir fordern deshalb einen gesetzlichen Mindestlohn von zehn Euro pro Stunde. Denn nach Berechnungen der Bundesregierung ist ein Stundenlohn von 10 Euro erforderlich, um nach 45 Jahren Vollzeitbeschäftigung eine Rente oberhalb der Grundsicherung zu erhalten. Wer heute für Hungerlöhne arbeiten muss, hat keine Chance, sich mit Erwerbsarbeit eine Rente zu erarbeiten, die das Existenzminimum im Alter sichert.

 

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