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Aufrüstung in Deutschland: Friedenspolitik und Industriepolitik gehören zusammen

Ulrike Eifler*

Die Industrie in Deutschland befindet sich in einem tiefgreifenden Umbruch. Neue technologische Innovationen und Antriebskonzepte, demografische Entwicklungen, die Notwendigkeit zu klimaneutraler Produktion und nicht zuletzt neue geopolitische Zuspitzungen sorgen für Druck. Die Folge sind immer häufiger Personalabbau und Betriebsschließungen. Allein 2024 sind 100.000 Industriearbeitsplätze verloren gegangen. Zusätzlich sind ein wachsender Trend zu Kurzarbeit, eine spürbare Zurückhaltung bei Neueinstellungen und die zunehmende Verlagerung von Schlüsseltechnologien ins Ausland zu beobachten – Indikatoren für eine tiefe Strukturkrise des deutschen Exportmodells.

Die Bundesregierung versucht diese Strukturkrise durch den Ausbau der Rüstungsindustrie zu lösen. So sollen alle rüstungs- und militärpolitischen Ausgaben oberhalb von einem Prozent des Bruttoinlandsproduktes künftig von der Schuldenregel ausgenommen und damit eine unbegrenzte Aufrüstung möglich sein. Ein riesiges Konjunkturpaket für die Rüstungsindustrie, die durch eine industriepolitische Leitlinie zusätzlich stimuliert wird: Subventionen, staatliche Aufträge, staatliche Abnahmegarantien, Lockerung beim Rüstungsexport und bevorzugter Zugang zur Rohstoffversorgung – die Bundesregierung zieht bei der Expansion der Rüstungsindustrie alle Register.

Sie reagiert damit auf den Druck der Arbeitgeber, die sich von der größten Aufrüstungswelle seit Ende des Zweiten Weltkriegs ein kräftiges wirtschaftliches Wachstum erhoffen. So forderte Oliver Dörre, Chef des Radar- und Sensorikspezialisten Hensoldt, erst vor einigen Monaten eine „Zeitenwende 2.0“: Die beschlossenen Rüstungsmilliarden könnten einen Innovationsschub in der Rüstungsindustrie auslösen, wenn sie vorrangig der europäischen Rüstungsindustrie zugute kämen, sagt er und fordert eine „Buy European Strategy“. Hintergrund: Der hochgradig monopolisierte Weltmarkt für Rüstungsgüter wird aktuell von den USA dominiert, weshalb ein Großteil der deutschen Rüstungsmilliarden durch die Beschaffung der F35-Kampfjets von Lockheed Martin absorbiert wurde.

Wie reagieren die Gewerkschaften darauf?

In der Satzung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) gibt es ein klares Friedensbekenntnis, weil 1949 den Gründungsvätern des DGB die Kriegserfahrungen noch in den Knochen steckten. In der Nachkriegszeit haben die Gewerkschaften daher nach Wegen gesucht, um den Schutz von Arbeitsplätzen in Rüstungsbetrieben und die eigenen friedenspolitischen Positionen in Einklang zu bringen. Insbesondere in den 70er und 80er Jahren wurden in Rüstungsbetrieben von Vertrauensleuten und Betriebsräten engagierte Konversionsprojekte angeschoben. Ziel war es, durch die Umstellung von Rüstungsproduktion auf zivile Produktion Arbeitsplätze zu erhalten.

Eine Argumentation, die heute nicht mehr so recht funktionieren will, denn die Logik hat sich ins Gegenteil gekehrt. Heute wird vor dem Hintergrund der Automobilkrise der Aufbau der Rüstungsindustrie zur Krisenlösung angeboten. Rheinmetall überlegt, in das Volkswagen-Werk in Osnabrück einzusteigen. In Görlitz hat KNDS das Alstom-Werk übernommen und produziert dort statt Straßenbahnen Panzerfahrzeuge. Auch in Gifhorn, Salzgitter und an anderen Standorten droht die Umwandlung von ziviler in Militärproduktion. In Zeiten der Industriekrise ist es die Rüstungsindustrie, die Arbeitsplätze schafft. Das sagt auch eine aktuelle Studie der Beratungsgesellschaft EY-Pantheon und der Dekabank. Dieser zufolge könnten Rüstungsausgaben in der Größenordnung von 3,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes 144.000 neue Arbeitsplätze schaffen.

Branchenexperten erkennen diese Wachstumseffekte an, machen aber deutlich, dass der Wachstumsschub in der Rüstungsindustrie nicht ausreichend wäre, um die Jobverluste anderer Industriebereichen auszugleichen. Die Behauptung, eine derartige Strategie sichere Arbeitsplätze, ist eher politisches Narrativ als Realität, um nationale Aufrüstungsfantasien als industriepolitische Vernunft ausgegeben. In Wahrheit wird ein Pfad beschritten, der über Jahrzehnte dreistellige Milliardenbeträge für den Aufbau der Rüstungsindustrie binden wird – Mittel, die im gesellschaftlichen Interesse dringend für die sozial-ökologische Transformation von Industrie und Gesellschaft nötig wären.

Auch friedenspolitisch geht der Vorstoß in die falsche Richtung. Anstatt auf Kooperation und zivile Formen der Sicherheit zu setzen, um eine weitere Eskalation zu vermeiden, erhöht der Fokus auf militärische Großprogramme die Kriegsgefahr. Nicht stabile wirtschaftliche Strukturen werden erzeugt, sondern Zyklizität, eine Abhängigkeit von staatlicher Nachfrage und politische Unsicherheiten. Aufgebaut wird eine industrielle Monostruktur, die im Kontext von realem Kriegsgeschehen stehen muss, um Wachstum zu generieren und Arbeitsplätze zu schützen. Die schuldenfinanzierte Aufrüstung tut ihr übriges: Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass Deutschland bereits 1938/ 39 infolge massiver Aufrüstung vor dem ökonomischen Kollaps stand. Die Abwendung des Staatsbankrotts, die Stabilisierung der Wirtschaft, der Druck leerer Staatskassen und der drängende Schuldendienst waren ein wesentlicher Treiber für den Krieg.

Nicht nur industriepolitisch, auch friedenspolitisch stehen die Gewerkschaften heute vor der Herausforderung, die Bedürfnisse der arbeitenden Klasse in den Mittelpunkt zu stellen: Arbeitsplatzsicherheit und Frieden. Dazu muss die Konversionsdebatte durch eine moderne, demokratische, sozial orientierte Industriepolitik flankiert werden: planbare Perspektiven, nachhaltige Arbeit, soziale Stabilität und industrielle Transformation müssen im Zentrum gewerkschaftlicher Kämpfe stehen. Dabei muss klar sein: Die friedenspolitischen Positionen der Gewerkschaften sind kein ideologischer Ballast vergangener Tage, sondern die Voraussetzung für eine erfolgreiche Industrie- und Sozialpolitik im Interesse der Beschäftigten.

Ulrike Eifler ist Gewerkschafterin und arbeitet für die IG Metall in Würzburg

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