Am 20. Juni 2016 wurden die Kolumnistin der Tageszeitung Evrensel und Vorsitzende der türkischen Menschenrechtsstiftung, Prof. Dr. Sebnem Korur Fincanci, der Journalist und Türkei-Korrespondent von „Reporter ohne Grenzen“, Erol Önderoglu sowie der Journalist und Autor Ahmet Nesin von einem Gericht in Istanbul verhaftet. Ihnen wird wie rund drei Dutzend weiteren Journalisten „Terrorpropaganda“ vorgeworfen. Sie alle hatten sich an einer Solidaritätsaktion für die pro-kurdische Zeitung „Özgür Gündem“ beteiligt und symbolisch für einen Tag die Chefredaktion dort übernommen.
In ihrer wöchentlichen Evrensel-Kolumne schrieb Fincanci am 27. Juni 2016 unter der Überschrift „Aus dem Gefängnis“: „Ich schreibe euch heute aus der Isolationshaft. Abgesehen von dem Irrsinn, der meiner Verhaftung zugrunde gelegt wird, kann ich sagen, dass ich sehr glücklich über meine Inhaftierung bin. Denn hier lerne ich vieles dazu.
(…) Ein paar Worte zu der Solidarität, die mich und meine Freunde Ahmet Nesin und Erol Önderoğlu nach unserer Verhaftung erreicht hat. Wir fühlen uns geehrt. In den letzten 5-6 Tagen besuchten mich rund 100 Rechtsanwälte, die den verschiedensten Organisationen angehören, und vor den Gefängnistoren, an meiner Uni, an den Zeitungskiosken zeigen unzählige Menschen ihre Solidarität.“
Ihren Beitrag schloss sie mit dem Satz ab: “Auf zur Solidarität, liebe Freundinnen und Freunde! Mit all unserer Vielfältigkeit sollten wir die Solidarität ausleben.“ Dank dieser eingeforderten Solidarität und auch internationaler Proteste wurden am 30. Juni Fincanci und Önderoglu, einen Tag später Nesin freigelassen. Şebnem Korur Fincanci wendete sich am 4. Juli mit ihrer Kolumne an Evrensel-Leser, die wir hier dokumentieren:
Aufs Neue, diesmal aus der Freiheit!
Sebnem Korur Fincanci
Als ich inhaftiert war, konnte ich unzählige Seiten vollschreiben. Als ich mich aber an diesen Beitrag gesetzt habe, musste ich lange grübeln, welche Einleitung ich nehmen soll. Mein lieber Kollege schrieb, dass ich vor 13 Jahren vom Evrensel-Chefredakteur Fatih Polat als Kolumnistin „entdeckt“ worden sei. Dies bot mir als jemand, die nicht aus dem Journalismus kommt, einerseits die Gelegenheit, meine Sicht zu diversen Tagesentwicklungen mit den Lesern zu teilen. Andererseits verdanke ich dieser Möglichkeit das Glück, herausfinden zu können, dass Schreiben genauso großen Spaß bereiten kann wie das Lesen. Da ich kein Profi bin, merke ich, wie schwer es ist, nach einer Unterbrechung diese Arbeit wieder aufzunehmen. Besonders in der Isolationshaft hatte ich das Gefühl, ich würde von meinen Gedanken erdrückt werden, wenn ich sie nicht zu Papier bringe. So führte ich ein Tagebuch mit meinen Beobachtungen. Als ich aber wieder in den Gemeinschaftsraum verlegt wurde, hatte ich keine Gelegenheit zu schreiben. Dort was das Sprechen gefragt. Als ich dann überstürzt aus dem Gefängnis entlassen wurde, war es die Solidarität, die mir den Atem verschlug, auch wenn wir jenseits der Gefängnismauern von der breiten Solidaritätswelle erfahren hatten…
Ich weiß nicht, ob wir uns vielleicht bei den Verantwortlichen für unsere Festnahme bedanken sollten. Denn schließlich verdanken wir es ihnen, dass die uns vorgeworfene Straftat „Solidarität mit Özgür Gündem“ über die Grenzen des Landes bekannt wurde und sich unverhofft viele dieser Solidarität anschlossen. Jedenfalls bleibt es festzuhalten, dass sie ihr Ziel, uns Angst zu machen und einzuschüchtern, damit nicht erreichen konnten. Ganz im Gegenteil: ihr Versuch traf wie ein Bumerang sie selbst. Und das ist Grund für ein tiefes Gefühl der Genugtuung.
Die Solidarität, die uns nach der Verhaftung erreichte, war zwar wie Balsam auf unsere verletzten Seelen mitten in der heutigen Gewaltspirale, die uns tagtäglich trifft. Allein im letzten Jahr wurden Hunderte Menschen bei Selbstmordattentaten aus dem Leben gerissen, unzählige Menschen tief in ihrer Seele verwundet, Tausende Häuser niedergebombt, Tausende junge Menschen bei bewaffneten Kämpfen getötet. Es war die Zukunft von Alten, Kindern, Frauen, unser aller Zukunft, die uns aus den Fingern glitt. In diesem düsteren Bild stellt die Solidarität, die Ahmet Nesin, Erol Önderoğlu und mir widerfuhr, ein Hoffnungsschimmer dar. Ein Farbtupfer, der uns allen wieder Hoffnung macht.
Die Mitgefangenen im Frauengefängnis Bakırköy verabschiedeten mich mit den Worten, mein Platz sei nicht das Gefängnis, ich solle meinen Kampf draußen fortsetzen. Diese Frauensolidarität erinnert mich allerdings daran, dass niemandes Platz im Gefängnis sein müsste. Deshalb sollten wir unsere Bemühungen für einen gesellschaftlichen Wandel verstärken – für eine Gesellschaft, in der alle Menschen in Würde leben.
Als Letztes noch eine Anmerkung: Es kommt nicht darauf an, ob wir uns diesseits, aber auch jenseits der Gefängnismauern befinden, um frei zu sein. Freiheit steckt in unserem Beharren, trotz aller Repressionen für die Wahrheit einzutreten, die Wahrheit in unser Leben hineinzutragen. Gleichgültig, wo wir uns befinden. Die wertvollste Erfahrung, die ich während der Haft gewann, war die Erkenntnis, wie weitreichend diese Beharrlichkeit mein Leben füllte. Ich bin ein glühender Fan von fantastischer Literatur. Dort gibt es Vampire, die den Menschen die Seele aussaugen. Die uns umgebende Stille saugt uns manchmal wie diese Vampire die Tatkraft aus. Die Hafttage gaben mir zusätzliche Energie, mit der ich mich aufgetankt habe. Wir sind wieder mit vollem Tatendrang da, und die Vampire sind vorerst in ihre dunklen Ecken verbannt. Trotzdem sollten wir uns nicht auf diesem Erfolg ausruhen. Dutzende von Journalisten, Journalisten und Tausende von politisch aktiven Menschen werden weiterhin gefangen gehalten. Wir müssen sie ebenfalls herausholen. Wir müssen dafür sorgen, dass das Töten ein Ende hat. Deshalb müssen wir die Solidarität verbreiten. Das sind wir ihnen schuldig.
Ein Hoch auf die Solidarität, die unsere Stimme in Worte und die Worte in den Widerstand verwandelt. Ein Hoch auf die Solidarität, die wir in unserer Beharrlichkeit für die Wahrheit verstärken müssen!