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Bekommt die Türkei nun eine demokratische Verfassung?

Die türkische Verfassung soll nach gegenwärtigen Bestrebungen der AKP Regierung unter Recep Erdogan…

Der Regierungsvorstoß hat sowohl im parlamentarischen als auch in außerparlamentarischen Kreisen rege Debatten und Reaktionen ausgelöst. Statt die Verfassung, die die Handschrift des brutalen Militärputsches trägt, von Grund auf zu verändern und so den Weg für eine demokratische Verfassung zu öffnen, gehen die bisherigen Änderungsvorschläge der Regierung über kleinere Korrekturen nicht hinaus. Sie schneidert die Verfassung nach eigenen Interessen und Wünschen und sieht sich nun einer breiten Opposition gegenüber, der sogenannten „Nein-Front“. In den bisherigen Änderungsentwürfen finden sich keine Verbesserungen der Situation und Verfassungsrechte von Millionen Arbeiterinnen und Arbeitern. Weiterhin ist auch eine Senkung der bislang bestehenden 10-Prozent-Hürde im Wahlgesetz nicht vorgesehen. Vertreter der Arbeiter- und Demokratiebewegung wehren sich gegen das „Änderungspaket“ der Regierung. Sie erklären die geplanten Veränderungen für unzureichend und weisen zu Recht darauf hin, dass diese wesentlich zur Stärkung der AKP-Regierung dienen solle.

Gemeinsame Erklärung von Intellektuellen
Weiterer Protest kommt auch von Intellektuellen, die mit einer gemeinsamen Erklärung an die Öffentlichkeit gingen. Darin fordern sie eine demokratische Verfassung, die Senkung der 10-Prozent-Wahlhürde sowie die Einschränkung der Immunität von Abgeordneten auf ihre Immunität des Rednerpults. Unter den fast 200 Unterzeichnern befinden sich Lehrbeauftragte, Künstler, Journalisten, Gewerkschaftler sowie weitere zahlreiche Vertreter aus anderen Kreisen. In ihrer Erklärung fordern sie unter anderem die Herstellung einer gesellschaftlich tragfähigen Einigung zum Änderungspaket, die nur gelingen kann, wenn politische Parteien, Universitäten und zivilgesellschaftliche Vertreter aktiv an der Diskussion und Erarbeitung einer neuen Verfassung beteiligt werden.

Demokratische Repräsentanz
In der Erklärung heißt es weiter „Die Verfassung, die die Handschrift des Militärputsches aus dem Jahr 1980 trägt, muss in eine Verfassung, die die Gleichheit, Freiheit und Demokratie garantiert, verändert werden.“ Mit Blick auf die bevorstehenden Parlamentswahlen, fordern die Unterzeichner demokratische Wahlen und die Garantie der demokratischen Repräsentanz. Der dazu formulierte Forderungskatalog umfasst folgende Punkte:

> Aufhebung der 10-Prozent-Wahlhürde sowie die Sicherstellung der gerechten Verteilung von Geldern an Parteien
> Aufhebung von undemokratischen Einschränkungen. Die Wahrung der Kriterien der Venedig-Kommission bei Parteiverboten. Parteiverbote sind nur als Ausnahmefall zu handhaben
> Die Immunität von Abgeordneten darf nur die Immunität der Meinungsfreiheit betreffen. Das Parlament muss ein Gesetz zur politischen Ethik erlassen
> Mit Ausnahme von Militär-, Sicherheits- und Justizangehörigen, muss das politische Ausübungsverbot für Beschäftigte des öffentlichen Dienstes aufgehoben werden.
> Die gleichberechtigte politische Repräsentanz von Frauen muss durch entsprechende gesetzliche und verfassungsrechtliche Regelungen gefördert werden. („positive Diskriminierung“)

Istanbul NeuesLeben

Dieses Spiel muss ein Ende haben

Kommentar/IHSAN CARALAN

Mit Bekanntgabe der geplanten Verfassungsänderungen der AKP Regierung, ist ein lauter Streit in der Türkei ausgebrochen. Die Schwerter werden in der Hauptstadt Ankara diesmal für die Änderungen der Verfassung geschwungen. Kurz nach Öffnung des Änderungspakets reagierten das Präsidium des Kassationshofs (eines der obersten Gerichte in der Türkei) und der Hohe Rat der Richter und Staatsanwälte mit scharfen Worten auf die Regierung. Sie beschuldigen die Regierung der Vereinnahmung der Justiz und der Auslöschung ihrer Unabhängigkeit gegenüber der Exekutive.
Auf die Erklärungen der beiden hohen Vertreter der Justiz antwortete die Regierung nur wenige Stunden später. Scharfe Kritik kam auch von Parteien aus dem nationalistischen, rechten Lager. Die „demokratische“ CHP (Republikanische Volkspartei) und die nationalistische MHP (Nationalistische Bewegungspartei) verkündeten ihr „Nein“ zum sog. Änderungspaket und griffen die Regierung mit harten Worten an. Die gegenwärtige politische Situation, die sich nach der Bekanntgabe des Entwurfs zur Änderung der Verfassung ergibt, wird vor allem weiterhin davon abhängen, inwieweit der Konflikt zwischen der AKP Regierung (sowie der politischen Kreise aus dem liberalen, konservativen Lager) und der oppositionellen Parteien und der Justiz ausgetragen und sich vertiefen wird. Jedoch ist klar, dass die Spannungen zwischen Regierung und der Justiz nicht darauf abzielen, einen beidseitigen Kompromiss zu erreichen. Vielmehr dient der öffentlich geführte Streit, die Bevölkerung und die Arbeiter zu täuschen bzw. die Wahrheit zu vertuschen. Je mehr sich die politischen Spannungen vertiefen, umso leichter ist es für die Regierung, die Arbeiter zu spalten und sie von den eigentlichen Motiven der geplanten Verfassungsänderungen hinwegzutäuschen. Denn die Regierung kennt nur das Prinzip des eigenen Vorteils und der Durchsetzung ihrer Interessen. Von unabhängigen Gerichten und des demokratischen Willens des Volkes will die Regierung nichts wissen. Aus diesem Grund ist das ihr eigentliches Ziel, breite Teile der Arbeiterschaft auf ihre Seite zu gewinnen und deren Unterstützung zu sichern.
Die eigentlichen Ziele der Regierung sind folgende: Während die politischen Kräfte innerhalb der Regierungspartei AKP die Verfassungsänderung auf die Frage nach Zustimmung ihrer Vorschläge oder Ablehnung der Verfassung des Militärputsches zuspitzen wird, werden die nationalistisch-konservativen Parteien CHP und MHP die Debatte gezielt auf die AKP richten. Ihre Strategie wird sein, die Verfassungsänderung als Angriffsfläche für die Regierungspartei zu nutzen. „Entweder Beibehaltung des Status quo oder Zustimmung für die AKP“, so ihr Motto. Für die demokratischen Kräfte gilt in erster Linie, dieses heuchlerische Spiel zu beenden und zu verhindern, dass die Arbeiter von den bürgerlich-nationalistischen Parteien bei den Debatten um eine neue Verfassung instrumentalisiert werden. Dafür ist aber notwendig, dass die fortschrittlichen Teile der Arbeiterklasse, die für Freiheit kämpfenden Kurden, die für Glaubensfreiheit und einen säkularen Staat kämpfenden Aleviten und fortschrittliche demokratische Parteien zu einem demokratischen Bündnis zusammenkommen und ihre Forderungen entschlossen durchsetzen. Die demokratischen Kräfte können dabei ihre Stärke aus folgenden Tatsachen schöpfen:
1. Das Änderungspaket der Regierung beinhaltet an keiner Stelle die Forderungen der Bevölkerung, sondern dient gänzlich zur Stärkung seiner Regierungsmacht.
2. Der Konflikt zwischen der AKP und dem Kapital berührt nicht die Interessen des Volkes.
Zweifellos eröffnen sich für die AKP jedoch zwei wichtige Chancen. Erstens kann sie sich als Türöffner für all diejenigen profilieren, die sich für einen Bruch mit der Verfassung des Militärputsches nun in Bewegung setzen und zweitens kann es ihr gelingen, die Opposition der CHP und MHP die Rolle der Verfechter der alten Verfassung und damit des Status quo aufzuerlegen. Damit drängt sie die Opposition von gezielten Angriffen auf ihre eigene Regierung zurück und degradiert sie zu Verfechtern der „bösen Verfassung“. Vor diesem Hintergrund, fällt den demokratischen Kräften in der Türkei eine überragende Verantwortung zu. Es liegt an ihnen, dieses heuchlerische Spiel zu beenden.

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