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Bild-Zeitung und Innenministerium vertuschen die Wahrheit

„Schockierende“ Ergebnisse enthüllte die Bild-Zeitung. Eine Studie über die „Lebenswelten junger Muslime in Deutschland“ habe herausgefunden, dass 48 Prozent junger muslimischer Migranten „Integrationsverweigerer“ seien und knapp ein Viertel radikale Ansichten vertreten würden. Unterstrichen wurde das auch vom Auftraggeber der Studie: dem Innenministerium. Doch die Wissenschaftler und Federführer der Studie widersprachen öffentlich der falschen Darstellung der Ergebnisse. Wir sprachen mit Prof. Dr. Klaus Boehnke von der Universität Bremen über seine Studie und ihre Inhalte.

 

NL: Seit fast über einer Woche diskutiert die Öffentlichkeit Ihre Studie. Was halten Sie von den Diskussionen?

Prof. Boehnke: Schock-Studie, darauf antworte ich immer, wenn ich danach gefragt werde. Für mich war das wirklich ein Schock, weil das, was in der Bild-Zeitung aus unserer Studie zitiert wurde, völlig aus dem Zusammenhang gerissen ist. Unsere Studie hat einen ganz anderen Tenor. Das Wort „intergrationsunwillig“ kommt in unserem Text nicht vor und es war schon sehr enttäuschend bis empörend, dass die Studie vor ihrer offiziellen Veröffentlichung der Bild-Zeitung über irgendwelche Wege zur Verfügung gestellt wurde. Die Bild-Zeitung hat den Sinn und die Ergebnisse der Studie komplett auf den Kopf gestellt, nämlich, dass die Zuwanderer im Prinzip selbst schuld seien, wenn es nicht funktioniere. 20 % im Durchschnitt würden sich gar nicht integrieren wollen. Das ist genau das Gegenteil von dem, was wir dort in der Studie gesagt haben.

 

 

NL: Ursprünglich wollten Sie die Studie auf einer Pressekonferenz mit dem  Bundesinnenministerium veröffentlichen. Warum wurde diese abgesagt?

Prof. Boehnke: Die Studie wurde Anfang 2009 vom Bundesinnenministerium in Auftrag gegeben. Die Ergebnisse stellten wir im Juni dem Ministerium vor, bis Oktober wurde am Text diskutiert letztlich am 1. November war die Studie fertig und publizierbar. Wir wurden immer hingehalten und es wurde gar nicht gesagt, wie es gemacht werden sollte, obwohl zunächst im Vorfeld der Abgabe des Berichtes gesagt wurde „… Dann machen wir eine Pressekonferenz mit dem Bundesminister und Ihnen und dann verkünden wir das..“. Irgendwann Ende Februar hieß es plötzlich „Nein, sie wird nur auf die Webseite des Bundesinnenministers hochgeladen!“ Am gleichen Nachmittag erschien sie schon auf Bild-Online. Die Bild-Zeitung hatte das offenbar zugespielt bekommen. Ich vermute – aber natürlich ist das nur meine Vermutung-, dass das Bundesinnenministerium daran interessiert war, unsere Ergebnisse in einer gewissen Weise zu kanalisieren und in der Öffentlichkeit die populistischen Vorurteile zu schüren, die unter vielen Deutschen durchaus vorherrscht: Nämlich, dass Migranten eigentlich immer verantwortlich für Probleme sind.

 

 

NL: Das Bundesinnenministerium hat wiederholt die Aussage unterstrichen, dass junge Muslime „Integrationsverweigerer“ sind…

Prof. Boehnke: Das Wort benutzen wir in dem tatsächlichen Text überhaupt nicht. Wir haben 14- bis 32-Jährige zugewanderte Muslime ohne deutschen Pass, zugewanderte Muslime mit deutschem Pass und kleine Vergleichsstichproben von Deutschen mit einem Telefoninterview umfassend befragt. Nach dem Gesichtspunkt, auf welche Kultur sie sich in ihrem täglichen Leben hauptsächlich beziehen, haben wir versucht, die Menschen zu gruppieren. Ein gewisser Prozentsatz gab an, dass sie sich ausschließlich auf ihre Herkunftskultur beziehen. Und das ist dann von der Bild-Zeitung uminterpretiert worden als „integrationsunwillig“. Das haben wir aber nie gesagt!

 

NL: Und was halten Sie davon?

Prof. Boehnke: Als Wissenschaftler kann man nur entsetzt die Hände vor den Kopf schlagen. Als die Bild-Zeitung das so publiziert hat, haben ganz große Teile der politischen Öffentlichkeit dann auf die Studie eingeschlagen, als eine fürchterliche Studie, die Ausländerhass in Deutschland schürt usw. Das war gar nicht unsere Studie, sondern das, was die Bild-Zeitung daraus gemacht hat. Und da standen wir dann plötzlich dar als Leute, die sich gegen die hier lebenden Migranten wenden, obwohl wir in unserer Studie – es ist eine wissenschaftliche Studie und nicht eine Meinungsäußerung – unterm Strich ganz was anderes gesagt haben, und zwar, dass Integration immer ein Prozess ist, an dem sowohl die Migranten als auch die Aufnahmegesellschaft beteiligt ist. Und wenn in Deutschland keine Kultur des Willkommenseins geschaffen ist, braucht man sich auch nicht zu wundern, dass es den Leuten relativ schwer fällt, zu sagen, dass sie sich in Deutschland integrieren möchten.

 

 

NL: Sie sagen in der Studie „jeder definiert die Integration für sich selbst“. Was bedeutet das?

Prof. Boehnke: Aus der sozialwissenschaftlichen Perspektive bedeutet „Integration“, dass den Menschen, die hierher gekommen sind, die Möglichkeit gegeben wird, sich sowohl auf ihre Herkunftskultur, als auch auf die deutsche Kultur zu beziehen, d.h. beide Kulturen in Einklang zu bringen. Aus der sozialwissenschaftlichen Perspektive wäre es sehr absurd, zu sagen, wer von weit herkommt, muss nun ein Mensch sein, der so deutsch ist, wie es nur irgendwie geht, der also alles so macht, wie „der traditionelle Deutsche“ und seine Herkunftskultur vergisst. Unsere Funde deuten darauf hin, dass es den Einwanderern immer dann am besten geht, wenn sie die Chance haben, sich sowohl auf ihre Herkunftskultur zu beziehen, als auch gleichzeitig in deutschen Kontexten Erfolg zu haben. Und das ist in Deutschland in der Tat nicht gegeben. Das ist ein Stück weit das Problem des Aufnahmelandes und nicht der „bösen“ Migranten.

 

 

NL: Sarrazin lobte diese Studie. Was sagen Sie dazu?

Prof. Boehnke: Herr Sarrazin hat auch nur die Bild-Zeitung gelesen und hat gesagt „stimmt ja, was ich sage“. Man kann sich das von vornherein nicht aussuchen. Andernfalls müsste man sagen, man beschäftigt sich mit dem Thema gar nicht, damit man keinen Beifall von der falschen Seite bekommt. Das ist nicht der richtige Weg. Natürlich war es uns furchtbar peinlich, dass Herr Sarrazin sich so geäußert hat. Eine Grundlage dafür gibt es jedoch nicht, weil unsere Studie das nicht so gezeigt hat. 2,9 % unserer Teilnehmer zählen wir zu „Radikalisierten“, die irrige Auffassungen haben. Und genau das wird in der Bild-Zeitung aus der Studie gemacht.

 

 

NL: Welche Rolle spielen Medien hinsichtlich der Integration?

Prof. Boehnke: Leider keine sehr rühmliche. Eine Forschungsgruppe aus Jena hat die Fernsehprogramme von ARD, ZDF, SAT 1 und RTL, zwei türkischen Kanäle TRT Türk und Kanal D und die arabischen Kanäle Al Jazeera und Al Arabia analysiert. Die Kernaussage daraus lautet, dass insbesondere in Deutschland die Privatfernsehsender eine sehr holzschnittartige entmenschlichende Stellungnahme zu den Migranten nehmen. Oft wird das als eine Problemgruppe dargestellt. Diese Kanäle stellen individuelle Errungenschaften oder auch vor allem individuelle Probleme von Migranten als typische Probleme der Migration dar. In den öffentlich-rechtlichen Sendern ist das etwas anders. Sehr häufig werden Migranten in Bildern von hinten, mit Kopftuch, einfach mit Accessoires, die der deutsche Durchschnittszuschauer dann ihm zuordnet, dargestellt, nicht aber als Menschen gezeigt.

 

 

NL: Sind das bewusst gewählte Bilder über die Migranten?

Prof. Boehnke: Das ist eine interessante Frage, ob das bewusst von den Medienmachern gesteuert wird oder ob das einfach etwas ist, was in den Köpfen der Journalisten herrscht. Nicht alle Amerikaner, die bei uns im Fernsehen auftreten, haben Cowboystiefel an. Bei muslimischen Migranten funktioniert das aber!

 

 

NL: Welche Probleme der jungen Migranten haben Sie untersucht?

Prof. Boehnke: Wir hatten einen klaren Auftrag vom Ministerium, die Geisteshaltung und Mentalitäten von jungen Migranten muslimischen Glaubens herauszukriegen. Wenn man ein vollständiges Bild zeichnen wollen würde, müsste man natürlich darauf hinweisen, dass die Chancen auf dem Arbeitsmarkt durchaus deutlich schlechter sind, als für Deutsche. Um ein ganz vollständiges Bild zu zeichnen, müsste man näher auf verschiedene Probleme eingehen. Das war aber nicht Auftrag dieser Studie.

 

 

NL: Sie werden in türkischen Medien sehr negativ dargestellt. Möchten Sie über unsere Zeitung der türkischen Öffentlichkeit etwas sagen?

Prof. Boehnke: Ich kann nur dringend darum bitten, die gesamten Inhalte der Studie wahrzunehmen und unseren Appell ernst zu nehmen, mit dem Populismus à la Sarrazin und  auch à la Friedrich, aufzuhören. Das macht eine „Willkommenskultur“ unmöglich und verhindert, wenn wir dieses Wort benutzen wollen, die „Integrationsbereitschaft“  der Migranten. Ich kann nur dringend darum bitten, dass auch in der türkischsprachigen Presse unsere Studie so zur Kenntnis genommen wird, wie sie ist und nicht, was die Bild-Zeitung dargestellt hat.

 

YÜCEL ÖZDEMİR

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